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Wenn Amateurkicker rotsehen

Malte Rohwer-Kahlmann
12. Dezember 2016

Beleidigungen, Schlägereien, Spielabbrüche - auf den Fußballplätzen der Republik geht es wild zu. Essens unterste Spielklassen gelten dabei als besonders hartes Pflaster. Woher kommt die Gewalt?

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Fußball Kreisliga-B-Spiel Barisspor 84 Essen vs. Atletico Essen
Bild: DW/M. Rohwer-Kahlmann

Die Sonne scheint, und doch ist es ein kalter Herbstnachmittag auf dem Kunstrasenplatz in Vogelheim, einem Stadtteil im Norden Essens. Es läuft die 40. Spielminute der Partie Barisspor gegen Atletico in der Kreisliga B. Der Torhüter von Barisspor muss gerade zum zweiten Mal an diesem Tag hinter sich greifen. Die Spieler von Atletico jubeln in ihren grün-weißen Trikots, so kann es für sie weitergehen. Vom Spielfeldrand gibt es verhaltenen Applaus. Ein paar Dutzend Zuschauer stehen in kleinen Grüppchen am Spielfeldrand, trinken Kaffee, flachsen über die nicht immer meisterhafte Ballbehandlung auf dem Platz. Ein ganz normaler Sonntag im deutschen Amateurfußball. Könnte man meinen.

Doch es gibt ein Problem in Essens untersten Ligen. Nach mehreren Gewaltausbrüchen auf den Fußballplätzen entschied sich der Essener Kreisverband, vorerst keine Schiedsrichter mehr zu Spielen von drei auffällig gewordenen Mannschaften zu schicken. Dazu zählt auch das Team von Barisspor, bei dem viele türkischstämmige Fußballer spielen. Und so leitet an diesem Tag eben kein Kreisschiedsrichter in neongelber Montur die Partie, sondern ein Vertreter des Gastvereins Atletico in Multifunktionsjacke und Jogginghose.

Sprachlosigkeit am Spielfeldrand - und im Verband

Hört man sich auf dem Platz um oder klickt sich online durch Kommentare in den sozialen Netzwerken, trifft man auf wenig Verständnis für die Entscheidung. Der Kreisverband schiebe die Verantwortung von sich; die neue Regelung erhöhe das Gewaltpotenzial nur, weil nun unerfahrene Schiedsrichter bei den "Problemmannschaften" auf dem Platz stünden. Der Fußballkreis Essen selber gibt sich bedeckt - wiederholte Anfragen der DW wurden leider nicht beantwortet.

Fußball Kreisliga-B Atletico Essen, Geschäftsführer Alfred Arndt
"Da kann man nichts mehr zu sagen" - Alfred Arndt wurde Zeuge von Gewalt auf dem FußballplatzBild: DW/M. Rohwer-Kahlmann

Wie jedes Wochenende steht Alfred Arndt, der Geschäftsführer von Atletico Essen, an der Seitenlinie. Seit über 40 Jahren schon ist er im Essener Amateurfußball aktiv - erst als Spieler, später als Funktionär. Er hat schon vieles gesehen, erzählt er der DW, aber so schlimm wie jetzt hat er die Gewalt auf den Plätzen noch nicht erlebt. Vor einigen Wochen war er dabei, als ein Spiel auf der Anlage von Atletico eskalierte.

Die Gegner waren mit einer Schiedsrichterentscheidung unzufrieden und gingen kurzerhand auf den Unparteiischen los, erzählt er. Als die Spieler von Atletico und auch Arndt selber dazwischen gingen, seien sie zum Ziel der Aggressionen geworden. Acht Streifenwagen der Polizei mussten anrücken, um die Situation zu beruhigen; es gab mehrere Anzeigen wegen Körperverletzung. "Da kann man nichts mehr zu sagen", schüttelt Arndt den Kopf. Heute bleibt es glücklicherweise ruhig auf dem Platz.

Anderer Ort, gleiches Problem

267 Kilometer weiter südlich läuft zur selben Zeit das Spiel Bosnjak Mainz gegen die TSG Heidesheim. In der 60. Spielminute will Schiedsrichter Jonas Blaser einen Spieler nach einem Foul vom Platz stellen und läuft zu ihm hinüber. "Ich habe schon in seinen Augen gesehen, dass er ziemlich sauer ist - und dann kam die Kopfnuss und ich lag am Boden", erzählt er im Gespräch mit der DW. Als er sich wieder aufgerappelt hat, bricht der Unparteiische die Partie ab.

Der 22-jährige Referee kommt mit einem Nasenbruch ins Krankenhaus; eine Platzwunde muss mit mehreren Stichen genäht werden. Aber vom Pfeifen lässt er sich auch in Zukunft nicht abbringen, zu wertvoll sei ihm dieses Hobby, dem er schon seit sechs Jahren nachgeht. Es gibt ihm die Möglichkeit trotz wenig Zeit zum Trainieren am Wochenende auf dem Platz zu stehen. "Mir das von so einem Spieler alles vermasseln zu lassen, das sehe ich nicht ein", sagt er. Außerdem sei solche Gewalt auf den Fußballplätzen in Mainz zum Glück eher eine Seltenheit.

Fußball Kreisliga-B-Spiel Barisspor 84 Essen vs. Atletico Essen
Eindeutige Sache: Atletico Essen ist Barisspor klar überlegen und gewinnt an diesem Sonntag mit 5:0.Bild: DW/M. Rohwer-Kahlmann

Spiegel der Gesellschaft

Tatsächlich zeigen Zahlen des DFB, dass nur 0,044 Prozent aller Spiele in Deutschland wegen Gewalt- oder Diskriminierungshandlungen abgebrochen werden. Doch dies bedeutet nicht, dass Gewalt auf den Fußballplätzen kein Problem ist, meint der Sportsoziologe Prof. Dr. Ulf Gebken von der Universität Duisburg-Essen. Besonders in Großstädten käme es häufiger zu Schlägereien, weil sich hier schneller soziale Spannungen entladen. "Menschen, die von Armut, Arbeitslosigkeit und fehlender Integration betroffen sind, treffen auf Menschen, die ihren Platz in dieser Gesellschaft gefunden haben. Wo sonst als auf den Fußballplätzen treffen diese Menschen aufeinander?", sagt er im Interview mit DW.

In der Spaltung der Gesellschaft sieht Gebken auch den Grund dafür, dass vergleichsweise viele Spieler mit Migrationshintergrund wegen Gewaltdelikten vor den Spruchkammern landen und dort auch härtere Strafen erhalten. "Für Menschen, die um Anerkennung ringen und sich diese über den Fußball holen wollen, sind Werte wie Fair Play und Sportsgeist zweitrangig. Erst mal geht's darum: 'Ich will das Tor machen!'", sagt er.

Der Schiri fühlte sich bedroht, der Verein streitet alles ab

"Wir mussten in die Kabine flüchten"

Zurück in Essen-Vogelheim. Atletico führt mittlerweile mit 4:0. Von Eskalation keine Spur, die Kräfteverhältnisse sind dazu vermutlich heute zu einseitig. Etwas abseits des Platzes steht in einem zur Imbissbude umfunktionierten Container Hakan Yesilsu. Er ist der zweite Vorsitzende von Barisspor 84 Essen und verkauft hier Würstchen, Getränke und Süßigkeiten. Wenn gerade keine Kundschaft kommt, hat er Zeit für eine Zigarette und ein paar Antworten.

Wie kommt es, dass kein Schiedsrichter mehr ein Spiel der ersten Mannschaft von Barisspor pfeifen will? "Es gab keine Gewalthandlung, keine persönliche Beleidigung oder Beschimpfung und auch keine Androhung von Gewalt", beschreibt er das fragliche Spiel vor einigen Wochen, welches vom Schiedsrichter abgebrochen wurde, weil er sich bedroht fühlte. Man merkt, dass Yesilsu die Entscheidung des Kreisverbandes ziemlich aufregt. Zu Unrecht werde sein Team da in eine gewalttätige Ecke gestellt, meint Yesilsu. Mit dem Imageschaden müsse sein Verein nun trotzdem leben. 

"Denkzettel" für Barisspor

Fußball Kreisliga B Barisspor 84 Essen, Hakan Yesilsu
"Es gab keine Gewalthandlung" - Hakan Yesilsu meint wenige Spieler beschmutzen den Ruf aller VereineBild: DW/M. Rohwer-Kahlmann

Ein Gewaltproblem im Essener Fußball gibt es in seinen Augen schon, nur sollten nicht alle unter den Entgleisungen einzelner Spieler und Vereine leiden. "Es gibt natürlich Vorfälle, die auch zu ahnden sind. Aber jetzt alle in einen Topf zu schmeißen, ist übertrieben", sagt er. Trotzdem wird die Spruchkammer einige Tage später eine Geldstrafe in Höhe von 100 Euro gegen Barisspor und eine Sperre gegen einen der Spieler verhängen. Nicht der Freispruch, den Yesilsu sich erhofft hatte - aber auch nicht mehr als ein "Denkzettel".

Aus seinem Container kann Yesilsu beobachten, wie Atletico das 5:0 schießt und die Partie verdient gewinnt. Es gibt Applaus, als der Ersatz-Schiedsrichter abpfeift. Ein ruhiges Spiel, ohne besondere Vorkommnisse. Zurzeit ist man darüber in Essen schon richtig froh.