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Prozessauftakt in Belgrad wegen Srebrenica-Massakers

22. Dezember 2005

Seit Dienstag (20.12.) wird in Belgrad gegen fünf ehemalige Mitglieder der serbischen Polizei-Sondereinheit "Skorpione" verhandelt. Sie sollen Zivilisten bei Srebrenica ermordet haben. Ein Video-Band ist Beweismittel.

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Standen die "Skorpione" unter Milosevics Befehl?Bild: AP

Die Angeklagten müssen sich wegen der Ermordung von mindestens sechs wehrlosen Zivilisten aus Srebrenica im Juli 1995 verantworten. Der serbische Ankläger für Kriegsverbrechen, Vladimir Vukcevic, kündigte weitere Anklagen gegen "alle" für diese Morde Verantwortlichen an. Täglich erhalte sein Büro neue Angaben und neue Namen, sagte er nach einem Treffen mit den Angehörigen der Opfer, die den Prozess in Belgrad verfolgen. Der Prozess schlägt in Serbien hohe Wellen.

Umgehende Reaktion der Polizei

Am 2. Juni dieses Jahres ging ein Schock durch Serbien: Eine Video-Aufnahme der Ermordung von sechs bosnisch-muslimischen Zivilisten in Trnovo durch Angehörige der serbischen Sonderpolizeieinheit "Skorpione" flimmerte über die Bildschirme tausender serbischer Haushalte. Auf dem Mitschnitt war zu sehen, wie die Peiniger ihre Opfer unter Beschimpfungen in einen Wald trieben und dann kaltblütig erschossen. Innerhalb von vier Tagen nach Ausstrahlung des Video-Bandes verhaftete die Belgrader Polizei mutmaßliche Angehörige der "Skorpione" und leitete gegen sie Ermittlungsverfahren ein.

Video mit Folgen

Die Menschenrechtlerin Natasa Kandic hatte das Video von einem abtrünnigen Angehörigen der "Skorpione" zugespielt bekommen und veröffentlicht. Kandic sagte DW-RADIO, dass nun der Prozess begonnen habe und die serbische Öffentlichkeit mit den Verbrechen konfrontiert sei, die in ihrem Namen geschehen sind. "Dieser Prozess, begann in Belgrad eigentlich mit einem Vorfall an der juristischen Fakultät. Mehrere tausend Studenten hatten an einer Podiumsdiskussion unter dem Titel Wahrheit über Srebrenica teilgenommen, die aber das, was sich in Srebrenica abgespielt hatte, in einer serbisch-extremistischen Wahrnehmung widerspiegelte." Als Reaktion darauf organisierten Nicht-Regierungsorganisationen eine eigene Podiumsdiskussion, um Gegenposition zu beziehen. Aus diesem Anlass wurde erstmals die Video-Kassette gezeigt. Kandic erinnert sich: "Diese Video-Kassette hat in der Öffentlichkeit einen wahren Schock ausgelöst und schlug ein wie eine Bombe. Am nächsten Tag hat sich Regierungschef Vojislav Kostunica erstmals offen und kritisch zu Srebrenica geäußert. Nach ihm hat sich sofort auch der Präsident der Republik Boris Tadic sehr klar geäußert und erklärt, wie die Bürger Serbiens sich fühlen, wenn sie wissen, dass unter ihnen viele Kriegsverbrecher leben. Und er sagte auch, dass er nach Srebrenica gehen werde, um dort der Opfer zu gedenken."

Beleg für direkte Befehlskette zu Milosevic?

Am 1. Juni wurde der Film erstmals beim Internationalen Kriegsverbrechertribunal ICTY in Den Haag im Prozess gegen den ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic vorgeführt. Ankläger Geoffrey Nice sagte, die Brisanz des Filmes bestehe nicht nur in der Grausamkeit der Bilder, sondern auch in der Identität der Täter. Denn das waren nicht bosnische Serben, sondern sie gehörten einer Polizeieinheit an, die dem serbischen Geheimdienst und damit dem Innenministerium in Belgrad unterstanden. Ein Beweis dafür, dass es eine direkte Befehlskette von Milosevic zu den Tätern von Srebrenica gab. Anfang Juli 1995 hatten dort bosnische Serben und bewaffnete Einheiten aus Serbien nach Erstürmung der UN-Schutzzone etwa 8.000 bosnisch-muslimische Männer umgebracht.

Brisant ist zudem, dass der Film eine Szene enthält, in der ein serbisch-orthodoxer Priester aus der Vojvodina vor der Tat die Soldaten segnete. Daraufhin veröffentlichte die Serbisch-Orthodoxe Kirche am 10. Juni eine Erklärung, in der die Tat als "kaltblütiger Mord an unbewaffneten und wehrlosen Zivilisten" verurteilt wurde.

Gesellschaft weiter als Politik?

Das Video hat zwar die serbische Öffentlichkeit wachgerüttelt, und die Täter stehen nun vor Gericht. Dennoch bezweifelt Natasa Kandic, dass die Politiker in Serbien die Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Tatsachen und deren Aufarbeitung wirklich vorantreiben wollen: "Ich glaube, dass die Vertreter der staatlichen Institutionen noch nicht zu dem Verständnis gelangt sind, dass es die Aufgabe dieser Regierung ist, sich dem zu stellen, was die vorangegangene Regierung getan hat und sie mit diesem Erbe umgehen muss."

Es ist übrigens nicht der erste Prozess gegen Angehörige dieser Sondereinheit: Bereits 2002 hatten Belgrader Ermittlungsbehörden gegen andere Angehörige der "Skorpione" wegen der Ermordung von 19 kosovarischen Zivilisten im März 1999 ein Verfahren eingeleitet.

Fabian Schmidt
DW-RADIO/Bosnisch, 20.12.2005, Fokus Ost-Südost