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Prozess der Veränderung

Alexander Kudascheff19. Februar 2003

Eigentlich hätten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs entspannt zurücklehnen können. Der gemeinsame Chor sang wieder ohne Misstöne. Aber nur eigentlich.

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Nach Monaten, in denen die EU unfähig gewesen war, eine einheitlichen europäischen Standpunkt zum Irakkonflikt zu formulieren, war in Brüssel nun doch noch der Durchbruch gelungen. Man hatte sich auf einen gemeinsame und im Kern auch vernünftige Position einigen können. Man hatte die beiden Extrempositionen in der Union - Tony Blairs vehemente Unterstützung des amerikanischen Kurs und Gerhard Schröders rigorose Ablehnung eines möglichen Irakkrieges - einbinden können.

Ganz nebenbei hatte man damit auch die Voraussetzungen geschaffen, die transatlantischen Bindungen zu stärken und den Riss zu überwinden, der die EU teilte. Harmonie war das Gebot der Stunde am späten Montag Abend. Die europäischen Falken und die Tauben in der Irakkrise hatten sich zusammengerauft. Europa sprach - natürlich mit Formelkompromissen - mit einer Stimme. Endlich, nach Monaten eines dissonanten Chors vom alten Kontinent.

Contenance kam abhanden

Da - überraschend oder nicht - verlor Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac die Contenance. Er, sonst ein Meister diplomatischer Finesse, klug gesetzter Worte und Andeutungen, vergriff sich im Ton. Lakonisch - und doch deutlich erregt - sagte Chirac, die Beitrittsländer hätten eine gute Chance verpasst, den Mund zu halten.

Der Hintergrund: die zehn neuen Mitglieder der EU, aber auch die beiden Anwärter auf einen Beitritt, Rumänien und Bulgarien, haben sich in der Irakkrise offen auf die Seite Washingtons gestellt - und dies auch laut und deutlich gesagt. Ob die drei baltischen Länder, ob der neue amerikanische Musterverbündete Polen, ob Tschechien, die Slowakei oder Slowenien: sie alle unterstützen die USA und damit auch die Haltung von Großbritannien, Spanien und Italien.

Machtverschiebung zeichnet sich ab

Die Folge: es zeichnet sich eine Machtverschiebung innerhalb der neuen, der erweiterten europäischen Union der 25 ab. Noch bestimmt der deutsch-französische Motor den europäischen Gang der Dinge mit Initiativen, Ideen und Vorschlägen. Noch geht nichts ohne und nichts gegen die deutsch-französische Achse in der EU. Aber das wird sich ändern.

Schon heute, in der EU der 15, gibt es immer wieder Unmut und Unwillen gegen die allzu präsidialen und selbstherrlichen Allüren Frankreichs. Schon heute gibt es Kritik - meist in der Kulisse - gegen den europäischen Allmachtsanspruch und Gestaltungswillen von Paris und Berlin. Doch bis jetzt konnten sich England , Spanien und Italien nicht dagegen durchsetzen. Der Grund war einfach: allen fehlte es an Verbündeten. Und: London ist zu sehr in seine "splendid isolation" verstrickt, die Insel befindet sich im europäischen Abseits - nicht nur beim Euro. Die Spanier möchten gerne einflussreich sein, sind aber das Land, das am meisten Geld erhält - und dadurch abhängig von den Anderen. Und Italien ist und bleibt selbst als Gründungsmitglied der EWG politisch ein Leichtgewicht.

Leises Murren

So bestimmt das deutsch-französische Tandem die Politik und die Kultur Europas. Doch jetzt kommen andere Nationen nach Europa heim. Mit anderen Traditionen. Mit einem anderen Selbstverständnis - von sich, von Europa, auch vom Verhältnis zu Amerika. Und sie wollen mehr als zehn Jahre nach den friedlichen Revolutionen gegen die kommunistischen Diktaturen nicht leise Bittsteller sein. Nein, sie kommen selbstbewusst und selbstsicher. Und das stößt auf Unverständnis. Sogar auf Kritik.

Nicht nur in Brüssel kann man gerade bei Deutschen und Franzosen immer wieder hören, man habe den Polen und Tschechen den Weg nach Europa auch finanziell geebnet - und jetzt sei man in Warschau und Prag undankbar. Und stelle sich an die Seite Washingtons. Dieses leise Murren hat Chirac aufgenommen, verstärkt und ausgesprochen. Es zeigt - jenseits diplomatischer Höflichkeit und wieder gewonnener Contenance - nur eins: das Europa der 25 wird dramatisch anders sein als die EU der 15. Der Prozess der Veränderung hat nun begonnen.