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Zwischen Verfolgung und Normalität

Frank Kempe11. März 2009

Eine Tagung in Berlin hat sich erstmals mit den Folgen des Nationalsozialismus für die so genannten "jüdischen Mischlinge" auseinandergesetzt. Eine Opfergruppe, von der bis heute wenig bekannt ist.

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Margit Siebner in ihrem Haus in Berlin-Lichtenrade.Bild: DW/Kempe

Dass sie nicht mehr dazugehörte, verspürte Margit Siebner vor allem in der Schule. Klassenbeste sei sie gewesen, erzählt die 80-Jährige, aber der Lehrer habe sie im Unterricht einfach nicht mehr drangenommen. So als wäre sie Luft. Mitschülerinnen wollten auf dem Klassenfoto nicht neben ihr stehen, beschimpften sie als "Judengöre". Und zu Hause am Berliner Spittelmarkt blieb ihr eine einzige Spielkameradin.

Im Schatten des Holocaust

Margit Siebner gehört zu jenen Menschen, die vom Nazi-Regime als so genannte "Halbjuden" verfolgt wurden. Unter dem Titel "Sag' bloß nicht, dass Du jüdisch bist" thematisierte die Tagung in Berlin, die Situtation dieser Menschen, damals und heute. Eingeladen waren Historiker, Psychotherapeuten, Kirchenvertreter, Altenpfleger und natürlich zahlreiche Betroffene. Organisator ist der Verein "Der halbe Stern", der sich um ältere Menschen kümmert, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden.

Laut einer Volkszählung aus dem Jahr 1939 lebten rund 71.000 "jüdische Mischlinge" im damaligen Deutschen Reich. Nach den Nürnberger Rassegesetzen galten Menschen mit zwei jüdischen Großelternteilen als "Mischlinge ersten Grades" oder "Halbjuden". Menschen mit einer jüdischen Großmutter oder einem jüdischen Großvater wurden von den Nazis zu "Mischlingen zweiten Grades" oder "Vierteljuden" gemacht. Die meisten Betroffenen waren getauft oder zumindest christlich erzogen, manche waren überhaupt nicht religiös.

Grenzgängerin zwischen Normalität und Verfolgung

Margit Siebner in der Seydelstraße nahe dem Berliner Spittelmarkt
Hier stand einst das Haus, in dem Margit Siebner mit ihrer Familie wohnteBild: DW/Kempe

Margit Siebner wurde 1928 als Tochter des jüdischen Buchhändlers Fritz Cohn und seiner Frau Gertrud geboren, einer so genannten "Arierin", die evangelisch getauft war. Der Vater wurde 1938 verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, weil er ein verbotenes Buch verkauft hatte. Um aus dem KZ entlassen zu werden, musste er sich scheiden lassen und binnen vier Wochen auswandern. Er starb 1944 in Shanghai an Tuberkulose.

Im Laufe des Krieges waren auch die "jüdischen Mischlinge" wachsendem Verfolgungsdruck ausgesetzt. Sie durften keine höheren Schulen besuchen, viele mussten Zwangsarbeit in der Organisation Todt, einer nach militärischem Vorbild organisierten Bautruppe, leisten. In die Vernichtungslager wurden aber nur wenige deportiert. "Privilegierte Rechtlose" seien sie gewesen, sagt ein Tagungsteilnehmer. Man habe gelitten, aber überlebt: als eine Art Grenzgänger zwischen scheinbarer Normalität und drohender Verfolgung.

Die Scham der Überlebenden

Viele der Betroffenen schämten sich dafür, dass sie es besser hatten als der Vater, die Mutter oder die Verwandten aus dem jüdischen Familienteil. Das selbst erlittene Unrecht machten nur wenige öffentlich. "Wir fanden nach dem Krieg auch keine Zuhörer", sagt ein Tagungsteilnehmer aus München. Und so sprachen manche nicht einmal mit der eigenen Familie darüber. Margit Siebner aber schwieg nicht. Und so erfuhren ihr Mann und ihre fünf Kinder auch, dass sie das letzte Kriegsjahr versteckt in einer Fabrik überlebte. Und dass sie seit der Kindheit ein Gefühl der inneren Zerrissenheit mit sich herumträgt.

Ein bisschen davon wohne auch in ihrer Seele, sagt die jüngste Tochter Judith Siebner. "Ich habe ein Stück der Verletzlichkeit, aber auch ein Stück der Stärke mitbekommen", sagt sie. Und auch sie treibe häufig die Frage um: "Wo gehöre ich eigentlich hin?"

Margit Siebner muss weiter erzählen, denn auch die dritte Generation interessiert sich für ihre Lebensgeschichte. Ihre siebzehnjährige Enkelin frage sie "schon Löcher in den Bauch."