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Pressestimmen von Samstag, 15. April 2006

Walter Lausch14. April 2006

Urteil im 'Ehrenmord-Prozess'

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Im so genannten Berliner 'Ehrenmordprozess' wurde der Todesschütze zu einer Jugendstrafe von mehr als neun Jahren verurteilt. Das Urteil findet ein großes Echo in den Samstagsausgaben der deutschen Tageszeitungen. Der Bonner GENERAL-ANZEIGER schreibt:

"Der Mord an Hatun Sürücü, die ihr Bruder Ayhan regelrecht aus der Welt geschafft hat, ist auch der grausame Beweis, dass just die westlichen Werte noch lange nicht in allen Teilen der türkischen Gesellschaft angekommen sind. Familien wie die Sürücüs, die falsch verstandenen religiösen Losungen folgen, sind keine Einzelfälle. Wer die Integration von Migranten will, auch, wer die Türkei nach EU- Europa integrieren will, kommt nicht daran vorbei, das Mittelalter des «Ehrenmordes» lieber heute als morgen zu beenden. Und irgendwie, auch wenn es populistisch klingt, möchte man dem Berliner Innensenator Ehrhart Körting beipflichten: Wenn die Sürücüs Ehre im Leib hätten, würden sie Deutschland verlassen."

Die RHEIN-NECKAR-ZEITUNG aus Heidelberg ist über das Urteil empört:

"Ein Urteil wurde gesprochen. Jedoch kein Recht. Ein junger Mann, der seine Schwester kaltblütig ermordete, der ihr dreimal in den Kopf schoss, der die Waffe danach beseitigte, der die Tat seiner Freundin beichtete und die Hintermänner, nämlich seine Brüder, benannte: dieser Mann muss knapp zehn Jahre ins Gefängnis. Der Rest der Familie bleibt straffrei. Das ist kein Urteil. Das ist eine Bankrotterklärung des Rechtstaates."

Auch die WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU aus Dortmund hält das Urteil für problematisch:

"Der Berliner-Ehrenmord-Prozess hinterlässt das Gefühl, dass hier zwar Recht gesprochen wurde, dass Urteil mit Gerechtigkeit allerdings nur wenig zu tun hat. Viel zu viel wurde von den Richtern erwartet. Sie waren nicht in der Lage, die Probleme der Integration von Ausländern mit einem Urteil zu lösen. Sie durften nur auf die Beweise schauen, die ihnen Staatsanwaltschaft und Kripo vorlegten und prüfen, ob sie ausreichten. Das gilt im deutschen Recht für Temposünder wie auch für brutale Mörder." A uf Unverständnis stieß teilweise, dass die Brüder des Mörders nicht auch verurteilt wurden. Für die Mainzer ALLGEMEINE ZEITUNG ist dies nachvollziehbar:

"Das Gericht hat genau das getan, was jedem anderen Angeklagten auch zusteht: Solange die Schuld nicht klar bewiesen ist, darf es keine Verurteilung geben. Das Urteil weist aber schmerzlich auf zahlreiche Fragen hin, die die Gesellschaft dringend lösen muss. Zum Beispiel: Gibt es bei der Polizei und im Justizwesen genügend Experten, die sich in den radikalen Strukturen der islamistischen Parallelgesellschaften auskennen? Dann hätte das Gericht vielleicht nicht zu diesem unbefriedigenden Urteil kommen müssen. Vor allem aber muss sich die deutsche Gesellschaft darüber im Klaren sein, wo sie zurecht kulturelle Unterschiede unterstützt - und wo sie Grenzen setzt."

Die WESTDEUTSCHE ZEITUNG aus Düsseldorf fragt sich, warum der 'Ehrenmord' erst jetzt zu einem Thema in Deutschland geworden ist:

"In den vergangenen zehn Jahren sind in Deutschland 40 junge Frauen im Namen eines mittelalterlichen Ehrverständnisses gelyncht worden. Dass diese hässliche Seite der Parallelgesellschaft erst jetzt eine breite Aufmerksamkeit findet, muss uns beschämen. Denn Parallelgesellschaft bedeutet ja nicht nur, dass sich der eine Teil bewusst absondert, sondern dass die Mehrheit der Gesellschaft lieber nicht hin sehen mag, was sich an ihrem Rand vollzieht. Anders ist die Gelassenheit nicht zu erklären, mit der wir bisher über die Missachtung elementarer Frauenrechte in vielen türkischen Familien hinweg gesehen haben."

Die Berliner Tageszeitung DER TAGESSPIEGEL sieht die Tat als Resultat der deutschen Einwanderungspolitik:

"Die Ermordung Hatun Sürücü ist das Ergebnis einer Politik, die vor vierzig Jahren Arbeitskräfte nach Deutschland rief und auch analphabetische, religiös verbohrte und brutal patriarchalische Menschen kamen. Kluge Einwanderungspolitik sieht anders aus. Aber weil eben damals weder Einwanderung gewünscht war, noch es Konzepte für eine Integrationspolitik gab, leben jetzt Menschen unter uns, die in ihren Köpfen, mit ihren Werten immer noch in ihrer Heimat sind. Wer Integration ernst meint, muss deswegen Regeln setzen und durchsetzen für alle."

Die BERLINER MORGENPOST stellt die Anwendung des Jugendstrafrechts in Frage:

"Der zur Tatzeit 18 Jahre alte Todesschütze kommt mit einer Jugendstrafe davon. Die älteren Brüder werden freigesprochen. Gerechtigkeit? Wer den Prozess verfolgte, muss dies bejahen jedenfalls in Bezug auf die beiden Brüder. Gewiss, viel spricht dafür, dass sie beteiligt waren doch es fehlten die Beweise. Konsequenz waren die Freisprüche. Das unterscheidet den Rechtsstaat von einer Parallelgesellschaft. Statt aber nach neuen Gesetzen zu rufen, sollte man die vorhandenen konsequenter nutzen; vor allem aber jenen Mechanismus in Frage stellen, wonach Straftäter unter 21 Jahren fast generell mild als Jugendliche bestraft werden, obwohl 18-jährige alle Rechte von Erwachsenen besitzen."

Abschließend die Meinung der Rostocker OSTSEE-ZEITUNG:

"Ein Gericht hat nur nach Gesetzeslage zu entscheiden. Gesinnung als solche ist häufig furcht-, aber nie strafbar. Man muss ihr, besonders im Fall überkommener, inhumaner, zudem unislamischer Ehrgefühle, mit sozialem Druck begegnen. Forderungen, die Brüder trotz mangelnder Beweise zu bestrafen, sind Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz und auf Muslime als Gruppe. Die, so das Signal der Urteilskritiker, lassen sich nur mit gesonderter Rechtsauslegung zu hiesigen Gepflogenheiten drängen. Dass Politiker nun noch verlangen, die Familie solle ausreisen, treibt diesen Irrsinn auf die Spitze. Wer so denkt, sieht einzig Migranten in der Bringschuld für friedliche Integration und meinen doch eher Assimilation. Kein gutes Signal."