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Pressestimmen von Samstag, 1. April 2006

31. März 2006
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Nach dem Hilferuf ihrer Lehrer steht die Rütli-Hauptschule im Berliner Problembezirk Neukölln nun unter Polizeischutz. Mit der sich daran entzündeten Debatte über Gewalt an deutschen Schulen befassen sich mehrheitlich die Kommentatoren der Tagespresse.

Die NEUE RUHR/NEUE RHEIN-ZEITUNG aus Essen bilanziert:

"Seien wir froh, dass eine Schule endlich den Mut aufgebracht hat, einen Skandal nicht länger unter den Teppich zu kehren, aus Angst, Prestige und Schüler zu verlieren. Mag Neukölln auch nicht überall sein - immer öfter sehen sich auch an Rhein und Ruhr Schulleiter und Lehrer an der Grenze des Zumutbaren angekommen; übrigens auch an Gymnasien mit Kindern wohlhabender Eltern und wenig Ausländern. Dass die Hauptschulen häufiger im Fokus stehen, hat bekannte Gründe. Verwahrlosung und Chancenlosigkeit auf Seiten der Jugendlichen, mangelnde Kontrolle und Überforderung auf Seiten der dennoch engagierten Pädagogen: ein explosives Gemisch."

Im REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER heißt es:

"Dass die Schulprobleme häufig in unserer Mitte entstehen, vergessen wir allzu leicht. Manchmal tragen Namen eine seltsame Ironie in sich - in der Rütli-Hauptschule zu Neukölln kam es zu einer Art umgekehrtem Rütli-Schwur: Es offenbarte sich eine anonyme Gesellschaft, die ihr Bildungssystem sich selbst überließ. Vielleicht hat Deutschland aber mit der Einrichtung von Ganztagsschulen eine neue Chance. Wir sollten dafür Sorge tragen, dass Pädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen, aber auch Eltern und ehrenamtlich Engagierte endlich zusammenwirken. Denn die Schule wird sich erst mit einer Gesellschaft ändern, die sich ihrer Verantwortung bewusst ist."

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG meint:

"(...) Sie (die Hauptschule) hätte schon in den vergangenen Jahren jene Förderung gebraucht, die den Gesamtschulen mit 30 Prozent zusätzlichen Mitteln gewährt wurde. So viel Geld ist mindestens nötig, um Hauptschulen bevorzugt zu Ganztagsschulen aufzubauen, um Lehrer mit fachlicher Vorbildung für Deutsch als Fremdsprache einzustellen, Schulpsychologen, Sozialhelfer mit Türkisch- und Arabischkenntnissen einzusetzen, um den unerläßlichen Kontakt zum Elternhaus überhaupt möglich zu machen. Die Hauptschule und ihre Lehrer können weder die versäumte elterliche Erziehung nachholen noch das Scheitern der Integrationspolitik der vergangenen Jahre rückgängig machen. Jetzt geht es um verpflichtendes Sprachenlernen spätestens im Kindergarten und die Stärkung der Hauptschulen durch berufspraktische Orientierung.(...)"

In der ESSLINGER ZEITUNG lesen wir:

"(...) Das zeigt, dass Sozialarbeit sehr früh beginnen muss. Die Kinder müssen im Kindergarten Deutsch lernen und ihre Eltern dringend mit einbezogen werden. Denn alle Anstrengung nützt nichts, wenn zuhause das Gegenteil dessen vorgelebt wird, was die Kinder tagsüber lernen. Nur so kann der Teufelskreis, der vielen der Jugendlichen bevorsteht, durchbrochen werden. Bei der beinahe hysterischen Diskussion des Themas darf aber nicht vergessen werden, dass es genügend Beispiele der gelungenen Integration gibt: Jugendliche, die einen ordentlichen Schulabschluss gemacht, eine Ausbildungsstelle bekommen haben. Sie haben in unserem Alltag Fuß gefasst."

Die LÜBECKER NACHRICHTEN analysiert:

"Gemeinschaftsgefühl kann es in einer Zweidrittelgesellschaft kaum geben, in der die Unerwünschten zwangsläufig auch die Unterprivilegierten sind. So lange sich dieses gesellschaftliche Grundgefüge nicht ändert, so lange werden die da unten auf jede noch so unakzeptable Weise ihren Anteil an materiellen Gütern und Respekt von denen da oben einfordern. Ein paar Sozialarbeiter sind eine gewiss wichtige Erste Hilfe, aber auf die Dauer werden sie allein nicht viel helfen."

In den STUTTGARTER NACHRICHTEN lesen wir:

"Der Skandal um die Rütli-Schule ist ein Menetekel. Jeder weiß das, jeder sagt, es muss was geschehen. Aber Geld und Konzepte fehlen, die Politik lässt die Dinge treiben - im kleinen Berliner Karo sowieso, und im Großen leider auch. Nur gute Ratschläge sind wohlfeil. Mal sehen, wie lange die Aufregung dauert."

Die FREIE PRESSE aus Chemnitz schreibt:

"Natürlich lässt sich das Problem der Gewalt mit bewaffneten Sicherheitsbeamten vor oder gar in der Schule in keinster Weise lösen. Gerade die jüngsten Ereignisse in unserem Nachbarland Frankreich zeigen anschaulich, dass mit derartigen Einsätzen die Situation oft noch weiter zugespitzt wird. Es gibt auch keinerlei Grund mit dem spitzen Finger nach Berlin zu zeigen, um damit etwa andeuten zu wollen, dass derartige Zustände anderswo vollkommen unmöglich sind. Sicherlich, das Gefahrenpotenzial für derartige Gewaltausbrüche mag längst nicht überall so groß sein, wie an dieser Schule in Berlin. Ein abgehobenes Einzelbeispiel ist die Lehranstalt aber deshalb nicht. Die Vorkommnisse sind ein eindringliches Warnzeichen und genau als solches müssen sie auch wahrgenommen werden."

Der WESER-KURIER aus Bremen meint:

"Die Hauptstadt hatte bis vor kurzem eine gut funktionierende Betreuung in Horten, die viel zur Integration von Migrantenkindern beigetragen hat. Aus Spargründen hat man die Horte dann aber von heute auf morgen an die Schulen verlagert - ohne entsprechende Räume, aber mit dem halben Personalschlüssel. Das war eine katastrophale Fehlentscheidung des SPD- Schulsenators Klaus Böger. Man sollte deshalb genau zuhören, wenn Minister und Senatoren Konsequenzen aus Pisa-Studien fordern und in Sonntagsreden das überaus reformbedürftige Bildungssystem schönmalen."

Zuletzt noch ein Blick in die OFFENBACH-POST:

"Immerhin, indem die Rütli-Lehrerschaft mit ihrem Brandbrief schlafende und eingeschläferte Hunde weckte, wurde endlich einmal eine breite Öffentlichkeit sensibilisiert. Jetzt können die Verantwortlichen für Bildung, Integration und Sicherheit nicht mehr so tun, als gäbe es kein Gewaltproblem an unseren Schulen, sie sind zum Handeln gezwungen. Wer jetzt noch Schulschwänzen zum Kavaliersdelikt herunterredet, physische und psychische Gewalt gegen Lehrer und Schüler und Disziplinlosigkeit ohne Gegenwehr duldet, der will nicht verstehen, was da auf uns zukommt, und der hat an den entsprechenden Schalthebeln nichts zu suchen."