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Pressestimmen von Mittwoch, 9. November 2005

Walter Lausch8. November 2005

Wahlniederlage von Bisky/Stand der Koalitionsverhandlungen

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Der Vorsitzende der Linkspartei, Lothar Bisky, ist auch im vierten Anlauf bei der Wahl zum Vizepräsidenten des Bundestags gescheitert. Das ist ein Thema dieses Blickes auf die Kommentarseiten der deutschen Tageszeitungen. Ein weiteres Thema sind die Koalitionsverhandlungen, von denen sich viele Kommentatoren enttäuscht zeigen.

Das Düsseldorfer HANDELSBLATT analysiert die Niederlage von Bisky:

"Im Fall Bisky haben die meisten Abgeordneten ihre eigene Geschäftsordnung ignoriert. Das ist ohne Zweifel legal und legitim, die Unabhängigkeit des Parlamentariers sollte die letzte Instanz sein. Auffällig ist nur, dass die Abgeordneten sonst bei weit geringeren Anlässen ohne Murren dem jeweiligen Fraktionszwang folgen. Die allerwenigsten Abgeordneten haben sich offen zu ihrem Votum gegen Bisky bekannt. Auch das ist ihr gutes Recht. Man kann jedoch vermuten, dass zumindest einigen nicht so ganz wohl war bei der Ausgrenzung des PDS-Mannes, den sogar ein CDU-Hardliner wie Jörg Schönbohm als integer verteidigt. Unter dem Strich zeigt der Vorgang, wie unangenehm den Abgeordneten die Rückkehr der Linken in den Bundestag ist. Doch das müssen sie aushalten."

Kein Bedauern hat die FRANKFURTER ALLGEMEIMNE ZEITUNG für das Scheitern von Bisky:

"Es hätte diesen vierten Wahlgang besser nicht gegeben. Soll der Bundestag denn zum Gespött werden und so lange weiterwählen, bis Parteiführern oder Geschäftsführern das Ergebnis passt? Glaubt überdies Herr Bisky, ein Anrecht auf seine Wahl zu haben? Auch das Amt des stellvertretenden Parlamentspräsidenten setzt, über Absprachen hinaus, ein Grundmaß an Vertrauen voraus."

Die KIELER NACHRICHTEN erinnern an die Vergangenheit von Bisky:

"Biskys nicht aufgeklärte Stasi-Vergangenheit war für viele Parlamentarier Grund genug, ihn nicht zu wählen. Mindestens ebenso schwer wiegt das zweite Argument: Ein Parteivorsitzender ist nicht unbedingt geeignet, die Sitzungen des Bundestages überparteilich zu leiten. Die Abgeordneten haben sich deshalb nicht beirren lassen und Bisky auch ein viertes Mal ihre Zustimmung verweigert. Ihr Votum war konsequent und mutig. Wir haben also gestern keine Niederlage des Parlamentarismus erlebt, sondern eine Sternstunde."

Dies sieht der BERLINER KURIER völlig anders:

"Der Deutsche Bundestag hat gestern nicht Lothar Bisky, sondern sich selbst vorgeführt. All die krampfhaften Begründungen für die Demütigung des Chefs der Linkspartei sind dummes Geschwätz. Wenn er mit der Doppelfunktion im Parlament überfordert wäre, dann dürfte Merkel als Kanzlerin nicht CDU-Chefin bleiben. Man sah vier Mal hintereinander einen Rachefeldzug. Die Mehrheit der Abgeordneten kann sich mit dem Wahlergebnis der Linken offenbar nicht abfinden. Statt es demokratisch zu akzeptieren, bestrafen sie Wähler. Das ist Rückfall in politische Barbarei."

In auffällig vielen deutschen Tageszeitungen äußern sich die Kommentatoren enttäuscht über den Verlauf der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD. So schreibt die HESSISCHE/NIEDERSÄCHSISCHE ALLGEMEINE aus Kassel:

"Große Koalition, große Erwartungen. Was aber bisher aus den Verhandlungsrunden bekannt wird, deutet auf eine große Enttäuschung hin. Denn die neuen Koalitionspartner drohen faule Kompromisse zu schmieden. Statt den öffentlichen Etats eine Perspektive zu geben, schaffen sie es nur mit Mühe, das aktuelle Milliardenloch zu stopfen. Statt vernünftig zu sparen, suchen sie permanent nach neuen Einnahmemöglichkeiten. Dort, wo wirkliches Ärmel hochkrempeln notwendig ist, vertagen sie wichtige Entscheidungen - etwa im Bereich der Gesundheitspolitik. So verliert Deutschland erneut wertvolle Zeit. Wenn es jetzt keinen Ruck gibt, dann steht schon zu Beginn der großen Koalition fest, dass eines nicht zu erwarten ist: ein großer Wurf."

Auch die WESTDEUTSCHE ZEITUNG aus Düsseldorf vermisst den großen Wurf:

"Stirnrunzeln. Das ist die noch freundliche Reaktion von Bürgern, die sich über den Entstehungsprozess der Großen Koalition unterhalten. Maßlos ist schon die Enttäuschung über die Edmund- Stoiberrisierung der Politik, in der persönliche Interessen offenbar weit vor jenen der Republik gehen. Das den in Berlin Verbliebenen nun nicht viel mehr einfällt als Steuererhöhungen, ist ein weiteres Trauerspiel. Mittelmaß statt Masterplan, Konfusion statt Koordination - und dazu noch eine designierte Kanzlerin, die sich im Rückzug übt, statt die von ihr eingeforderte Richtlinienkompetenz auszuüben. Quo vadis Angela Merkel? Quo vadis Deutschland?"

Der Kommentator der WELT aus Berlin ist verärgert:

"Der Anfangsoptimismus ist dahin, die Koalitionsgespräche münden in Verärgerung. Was sich abzeichnet, ist ein Großangriff aufs Portemonnaie der Bürger, eine Politik der Steuererhöhungen und Mehreinnahmen, die Selbstversorgung des Staates auf Kosten der Erfolgreichen und der Wirtschaft. Gepredigt wird das Evangelium sanierter Haushaltskassen. Am Ende geht es darum, den Steuerzahler weich zu klopfen. Man muss es deutlich sagen: Deutschland steht vor einer Enteignungswelle mit absehbaren Folgen. Noch keine Wirtschaft der Welt wurde durch Steuererhöhungen nachhaltig angekurbelt, kein echter Arbeitsplatz entsteht durch Subvention und Umverteilung. Die Koalition geht den Weg des geringsten Widerstands."

Die OSTTHÜRINGER ZEITUNG aus Gera betont dagegen einen positiven Aspekt der Koalitionsverhandlungen:

"Mit Glanz und Gloria wird Angela Merkel nicht in ihre erste Amtszeit starten können. Die Chance der großen Koalition besteht zu allererst darin, den Bürgern endlich reinen Wein einzuschenken und die Tricks und Täuschungsmanöver der Vergangenheit zu den Akten zu legen."