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Pressestimmen von Mittwoch, 26. November 2003

25. November 2003

Aussetzung des Defizit-Verfahrens gegen Deutschland und Frankreich

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Die Kommentarspalten der deutschen Tageszeitungen werden von einem Thema dominiert: der Aussetzung des Defizit-Verfahrens gegen Deutschland und Frankreich und den Folgen für den EU-Stabilitätspakt.

Das HANDELSBLATT aus Düsseldorf schreibt dazu:

"Selten waren über einen Patienten solche widersprüchlichen Diagnosen zu hören: Ist er schon tot? Waidwund geschlagen? Oder doch noch quicklebendig? Die Rede ist vom europäischen Stabilitätspakt, an dessen Krankenlager sich viele berufene und unberufene Therapeuten aus Politik, Ökonomie und Medien versammelt haben. Dabei stellt sich eine noch viel wichtigere Frage: Wird es nach dieser Nacht der nationalen Kleingeisterei noch die beabsichtigte Vertiefung der Integration geben? Tatsache ist: Deutschland und Frankreich haben sich nicht nur brutal über die Europäische Kommission hinweggesetzt, sondern haben auch viele kleine Mitgliedstaaten brüskiert."

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG gibt zu bedenken, dass der Pakt nur funktioniert, wenn sich auch die Großen den Regeln beugen, und fragt:

"Wie soll irgendein EU-Finanzminister künftig zu Hause Sparsamkeit durchsetzen, wenn sich Deutsche und Franzosen ständig mit aufreizender Arroganz der Disziplin entziehen? Die Bundesregierung hat mit Reformen begonnen, die, wenn sie konsequent weitergehen, auch zu gesünderen Staatsfinanzen führen werden. Aber sie hat viel zu spät damit begonnen. Jetzt ist der Preis dafür fällig. Sie hätte ihn bezahlen und das Strafverfahren akzeptieren müssen."

Die OSTSEE-ZEITUNG aus Rostock zeigt dagegen Verständnis für die Haltung von Finanzminister Hans Eichel:

"Eichel ist ist verdammt, sein Amt in einer schweren Wirtschaftskrise auszuführen, die offensichtlich bei Ausarbeitung des Paktes auch nicht so recht ins Kalkül gezogen wurde. Seinem Argument, dass die Bundesregierung mit ihren Sparmaßnahmen bereits bis an die Grenze des Erträglichen gegangen sei, kann man sich in Anbetracht der schon beschlossenen Grausamkeiten schlecht verschließen. Alle darüber hinausgehenden Spar-Auflagen der EU-Kommission wären für das zart sich regende Pflänzchen Konjunktur nur kontraproduktiv gewesen."

Die OSTTHÜRINGER ZEITUNG aus Gera äußert sich hierzu kritischer:

"Ökonomisch stellten Finanzminister Hans Eichel und sein französischer Kollege Francois Mer ja eine berechtigte Frage: Welchen Sinn hat in der Konjunkturflaute ein Strafverfahren, das noch mehr Kaufkraft aus dem Kreislauf zieht und die Schwächephase womöglich verlängert? Doch Eichel und Mer operierten wie Bulldozer-Fahrer, die erst das Haus niederwalzen, um dann im Bauplan nachzuschauen, wo sich Renovierung gelohnt hätte."

Der Kommentator der BERLINER ZEITUNG beleuchtet die Folgen der Brüsseler Entscheidung für die europäische Währung:

"Nimmt der Euro nun Schaden? Kurzfristig nicht, denn derzeit schaut die Finanzwelt vor allem Richtung USA, wo sich Haushalt und Leistungsbilanz bedrohlich entwickeln. Langfristig schwächt die gestrige Entscheidung den Euro aber ganz sicher. Mit welchem Recht und mit welcher Überzeugungskraft sollen künftig insbesondere die Beitrittskandidaten aus Mittel-, Ost- und Südeuropa zu ökonomischer Konvergenz verpflichtet werden? Dass außer den Deutschen auch die Franzosen für eine windelweiche Auslegung des Paktes sorgten, ist erst recht heikel: just jene Staaten, die sich gern als Motoren der europäischen Integration bezeichnen, missbrauchen ihr Stimmgewicht, um - aus ökonomischer Schwäche - eine Sonderrolle zu beanspruchen."

Zum Schluss zitieren wir die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, die sich ebenfalls mit den Reaktionen in den Beitrittsländern befasst:

"Niemand brauchte sich jetzt zu wundern, wenn diese betrübliche Erfahrung in die Beratungen über den europäischen Verfassungsvertrag überschwappte. Den kleinen Mitgliedstaaten wäre es nachzusehen, würde ihr Mißtrauen, mit dem sie die neue Machtbalance zugunsten der großen sehen, noch größer. Die künftigen Mitglieder, denen ein knüppelhartes Anpassungsprogramm abverlangt worden ist, werden sich diese Lektion gut merken: Wer erst im Klubhaus sitzt und Muskeln zeigt, der kann schon mal über die Stränge schlagen."

Die Redaktion hatte Reinhard Kleber.