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Pressestimmen von Freitag, 6. Januar 2006

Gerhard M. Friese5. Januar 2006

Scharons Krankheit

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Der Besorgnis erregende Gesundheitszustand des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon ist an diesem Freitag das zentrale Thema der Kommentare deutscher Tageszeitungen.

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG schreibt:

"Nicht nur Israel, die Welt wird wohl fortan ohne den Politiker Ariel Scharon leben müssen, einen Mann, der in den letzten Jahren den Weg von Rechtsaußen zum Verfechter der Mitte zurückgelegt hat. Das bedeutet, dass weitere Ungewissheiten im Nahen Osten den Anfang des neuen Jahres begleiten. Scharon hatte sich in den vergangenen Jahren durch seine Politik auch bei denjenigen Israelis Vertrauen erworben, die seine Ansichten sonst ablehnten."

Die BERLINER ZEITUNG nimmt Scharons Erkrankung zum Anlass zu einem Blick auf die Nahost-Politik der USA:

"Es zeigt sich nun, dass die allein auf zwei Faktoren basierende Nahostpolitik des Präsidenten Bush den Ansprüchen an Führung durch eine, durch die Weltmacht nicht im Geringsten genügt. Faktor eins war der Irak-Krieg, der eine Veränderung der strategischen Situation zu Gunsten des Westens durch eine schrittweise Demokratisierung der Region bringen sollte. Dies hat sich als Fehlschlag erwiesen. Faktor zwei aber war Ariel Scharon, der auf ideale Weise das Ziel der US- Regierung verfolgte, den Palästinensern ein wenig zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne den Israelis und den Millionen jüdischen Wählern in den USA zu viel abzuverlangen und all dies ohne größeren Einsatz der Amerikaner. Dieses Nicht-Engagement der US-Führung rächt sich nun."

Die Lüneburger LANDESZEITUNG kommentiert:

"Mit Scharon fällt die letzte Konstante in einer instabilen Region aus. Die bisweilen brutal klare Realpolitik Scharons wird dem Nahen Osten fehlen in einer Situation, in der Irans eifernder Präsident von der atomaren Vernichtung Israels träumt und in der das ausufernde Chaos in den Palästinensergebieten den radikalen Islamisten in die Karten spielt. Scharons Erbe könnte Benjamin Netanjahu werden. Der ist mindestens ebenso konservativ-nationalistisch. Aber wo der einstige General präzise analysierte, zeigt Netanjahu, als ehemaliger Hauptmann einer Kommandoeinheit, Draufgängertum."

Die Berliner TAGESZEITUNG nennt Scharon einen israelischen Napoleon und merkt an:

"Sein Program war seit Jahren klar: Anschluss von mehr als der Hälfte des Westjordanlands an Israel, machtlose palästinensische Enklaven in den übrigen besetzten Gebieten, Abzug der Siedler aus diesen Restgebieten. All dies ohne Verhandlungen und Verständigung mit den Palästinensern, aber in Vereinbarung mit den Amerikanern. Seine Stunde war gekommen, und plötzlich ist sie zu Ende. Gerade als er im Zuge war, sein Lebensziel zu erfüllen, hat ihn das Schicksal ereilt."

In der KÖLNISCHEN RUNDSCHAU heißt es dazu:

"Blieb der 77-Jährige in all seiner politischen Unberechenbarkeit auch bis zuletzt in In- und Ausland und bis hinein in seine einstige Likud-Partei höchst umstritten, so vermittelte der frühere militärische Haudegen doch einem Großteil seiner Landsleute ein Grundgefühl von Sicherheit. In zunehmend unruhigen Zeiten bedeutete dies ein Stück Stabilität, die nun wegzubrechen droht."

Die NÜRNBERGER NACHRICHTEN sprechen vom Ende einer Ära:

"So könnte es sich als fatal erweisen, dass Israel keinen hat, der Scharons politisches Erbe antreten kann. Keinen, der einen annähernd kurzen Draht ins Weiße Haus hat. Keinen, der den Palästinensern in vergleichbarer Weise ein Entgegenkommen signalisiert ... zu seinen Konditionen zwar, aber immerhin ist darauf Verlass. Die Hoffnung auf Entspannung in Nahost, die vor einer Woche noch am Leben war, ist mit Scharons Schlaganfall gestorben. Das ist weit mehr als eine Zäsur. Es ist das Ende einer Ära."

Der Bonner GENERAL-ANZEIGER sieht eine Gefahr für den Nahen Osten:

"Wer hofft, dass der amtierende Regierungschef Ehud Olmert oder irgendein anderer Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten die von Scharon anvisierten Schritte in Richtung Konfliktlösung machen kann, macht sich Illusionen. Ohne Scharon fehlt in Israel der starke Mann, nach dem sich die Massen sehnten und der erforderlich war und ist, um unpopuläre 'schmerzliche Verzichte' durchzusetzen. Mit Scharons Ausscheiden sind auch die Israelis praktisch führungslos geworden - wie die Palästinenser, bei denen Mahmud Abbas nach anfänglichen Erfolgen längst die Kontrolle verloren hat."

Die Koblenzer RHEIN-ZEITUNG meint zu Israel nach Scharon: "Scharons neu gegründete 'Kadima'-Partei ist vermutlich am Ende. Er war ihr Programm, ihr Zugpferd, ihr Zentrum. Das, was Scharon nun hinterlässt, ist eine Hülle ohne Inhalt, ein gebrochenes Versprechen. Vielleicht schafft die neue Partei noch den Sprung ins Parlament. Doch dessen stärkste Kraft wird sie niemals mehr werden. Nicht einmal, wenn der Friedensnobelpreisträger Schimon Peres die Führung übernehmen sollte. Die große Zeit des Polit-Dinosauriers ist vorbei; er gilt als verbraucht."

Einen Blick in die Zukunft wagt auch der MANNHEIMER MORGEN:

"Theoretisch könnte jetzt die große Stunde von Benjamin Netanjahu schlagen. Der Hardliner vom rechten Likud lehnt Scharons Politik ab. Bereits nach Izchak Rabins Ermordung war es 'Bibi', der den Osloer Friedensprozess abrupt abbremste. Ein Comeback Netanjahus wäre deshalb das falsche Signal.... Scharon hat zwar die politischen Lager gespalten, aber die Mehrheit der Bevölkerung will einen Ausgleich mit den Palästinensern - und damit Scharons Vermächtnis weiterführen."