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Pressestimmen von Freitag, 3. Juni 2005

Hans Ziegler2. Juni 2005

Europa in der Krise/ Visa-Ausschuss nimmt vorzeitiges Ende

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Zentrales Thema in den Kommentaren der deutschen Tagespresse an diesem Freitag ist die Krisenstimmung in der Europäischen Union nach dem auch in den Niederlanden gescheiterten Referendum und damit dem zweiten Nein zur EU-Verfassung. Außerdem findet der Visa- Untersuchungsausschuss Beachtung. SPD und Grüne setzten mit ihrer Mehrheit durch, wegen der möglichen Neuwahl im Herbst dessen Arbeit vorzeitig zu beenden.

Zunächst zur Situation in der Europäischen Union und ihre Bewertung in der deutschen Tagespresse. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG sieht eine echte Zäsur:

'Europa steht ganz am Beginn einer neuen Zeitrechnung: Andere, vermutlich nationalstaatlich denkende Regierungen werden eine frische europapolitische Vision entwerfen. Sie werden sich vielleicht eingestehen, dass die Belastung aus Mega-Erweiterung und Verfassung zu viel war für die Bürger des Kontinents. Sie werden die Erweiterung gleichwohl hoffentlich nicht beenden und die Türen zum Club schließen.'

Das 'HANDELSBLATT' macht Kanzler Schröder mitverantwortlich für die Krise, wenn es im Kommentar heißt:

'Europabegeisterung kommt nicht über die Menschen wie der Heilige Geist. Die europäische Idee bleibt nur dann lebendig, wenn überzeugende Führungspersönlichkeiten dafür werben. Helmut Kohl und François Mitterrand ist das gelungen, Gerhard Schröder und Jacques Chirac aber haben es gar nicht erst versucht. Stattdessen schoben Kanzler und Präsident die Schuld für Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche den angeblich unfähigen und machthungrigen Bürokraten der Brüsseler EU-Kommission zu. Zuletzt geschah das mit der EU-Dienstleistungsrichtlinie, die Schröder und Chirac zu Unrecht als liberales Teufelszeug verunglimpften.'

Die 'WELT' sieht in der Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags einen heilsamen Schock für Europa:

'Die EU ist zum Ego-Projekt einer gläubigen Funktionärskaste geworden. Sie verkörpert eine bürokratische Weltsicht, die bei gewöhnlichen Leuten, so sie denn gefragt werden, mehrheitlich Befremden auslöst. Man kann es deshalb in diesen Tagen nicht genug betonen: Der durch die Referenden in Frankreich und Holland hervorgerufene Realitätsschock ist heilsam für Europa. Er bedeutet keinen Rückfall in die finsteren Zeiten des Nationalismus, sondern er zeugt von intakten demokratischen Instinkten.'

Die 'FRANKFURTER RUNDSCHAU' sieht vor allem wirtschaftliche Ängste als Grund für das doppelte Nein zur EU-Verfassung:

' Das Referendum als Vehikel der Aufklärung, die Hoffnung auf mehr Demokratie durch gestärkte Rechte der Parlamente, die Aussicht auf größeres internationales Gewicht durch wachsende Größe auf dem Kontinent, das vermeintliche Wir-Gefühl der Benutzer einer gemeinsamen Währung - nichts davon hat den ersehnten Schub an Zustimmung gebracht. Der Mangel wird nicht zu heilen sein, solange die EU nicht liefert, was die Bürger am bittersten entbehren: ein Mehr an wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit in unsicheren Zeiten.'

Die WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU aus Dortmund schreibt:

'Auch in Deutschland hätte die europäische Verfassung wohl keine Volksabstimmung überlebt. Eine mancherorts geradezu hysterische Anti-Europa-Stimmung hat sich breitgemacht. Nun rächt sich dreierlei: Der Versuch, die historische Überwindung der europäischen Teilung als vorrangig technisch-institutionelle Frage zu behandeln, der die Ängste und Befindlichkeiten der Menschen untergeordnet werden. Die Angewohnheit nationaler Politiker, eigene Misserfolge der anonymen Brüsseler Eurokratie zuzuweisen. Und schließlich die strikte Ausrichtung der Kommission auf Markt und Wettbewerb, unter der die soziale Balance in der Gemeinschaft gelitten hat.'

Abschließend die 'FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG', die - anders als die überwiegende Mehrheit der Kommentatoren - den Blick nicht auf die Situation in der Europäischen Union richtet, sondern auf das innenpolitische Thema des Visa-Ausschusses und dessen vorzeitiges Aus. Im Kommentar heißt es bissig:

'Es ist schon erstaunlich, wie handlungsfähig eine Koalitions- mehrheit noch ist, die demnächst im Bundestag bekunden soll, dass der Bundeskanzler nicht mehr handlungsfähig sei. Im Visa-Ausschuss hat sie sich aufgeführt wie eine Schulklasse vor dem Pausengong, der die großen Ferien einläutet: Akten zu und mit Gebrüll ins Freie.'