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Pressestimmen von Freitag, 2. Mai 2003

Ulrike Quast 1. Mai 2003

Tag der Arbeit

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Die Kundgebungen zum Tag der Arbeit wurden von massiven Protesten der Gewerkschaften gegen den Reformkurs von Bundeskanzler Gerhard Schröder geprägt. DGB-Chef Michael Sommer warf dem Kanzler vor, mit dem Wort Reform lediglich Sozialabbau zu kaschieren. Schröder machte nochmals deutlich, dass er seinen Reformkurs nicht ändern wird. Die gegensätzlichen Positionen zu diesem Thema kommentiert an diesem Freitag die deutsche Tagespresse.

Der MANNHEIMER MORGEN schreibt:

"Vorbei ist's vorerst mit der alten Solidarität zwischen Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaften von heute ziehen nicht mehr mit den Genossen in die Schlacht, sondern gegen sie. Gnadenlos wird SPD-Chef und Verdi-Mitglied Gerhard Schröder am 1. Mai ausgepfiffen. Mit seiner Reform-Agenda 2010 hat der Kanzler die Gewerkschaften ins Mark getroffen, weil sie spüren, dass es nicht mehr allein um die üblichen Verteilungskämpfe geht, sondern dass Selbstverständnis und Legitimation der Arbeitnehmerorganisationen schlechthin auf dem Spiel stehen. An den giftigen Reaktionen lässt sich ablesen, wie tief die Angst der Funktionäre vor Isolation und Machtverlust sitzen muss."

Der EXPRESS aus Köln stellt sich hinter den Kanzler:

"Gut so! Als Kanzler ist Schröder nicht den Gewerkschaften verpflichtet, sondern dem ganzen Volk, das er laut Amtseid vor Schaden bewahren muss. Was er vorhat, ist außerdem nicht der Untergang des Sozialstaats, wie es uns einige Gewerkschaftsbosse weismachen wollen. Nach jahrelangem Nichtstun packt Schröder vielmehr Reformen an, die diesen Namen auch verdienen. Weitere müssen folgen. Andernfalls dürfte es nicht mehr lange dauern, bis das ganze marode Sozialsystem wie ein Kartenhaus zusammenkracht und Jobs vollends zur Mangelware werden. Wäre das etwa sozial gerecht?"

Die Tageszeitung DIE WELT meint:

"Gerhard Schröder wurde auch deshalb ausgepfiffen, weil er seine Partei und seine Wähler auf seinen verschlungenen Wegen nie mitgenommen hat, weil er sie links liegen ließ; weil er sie im Verharren bestärkte - und in der Überzeugung, nur die böse Konjunktur sei Schuld. Jetzt sollen sie ihm plötzlich das Gegenteil glauben, und das ultimativ. Wen wundert es da, dass sich selbst die treuen Anhänger verraten fühlen. Der Kanzler hat so oft den Kurs gewechselt, dass ihm die Leute gar nichts mehr abnehmen - nicht einmal das Richtige. Sie pfeifen auf ihn."

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG heißt es:

"Die Gewerkschaften geben sich entsetzt über des Kanzlers Reform - Politik, die sie mit Blick auf ihr Eigeninteresse wohl als «Verrat» ansehen müssen: Sie haben Schröder nicht zur Wahl und Wiederwahl verholfen, damit er die Besitzstände der Gewerkschaftsklientel beschneide, Gemeinwohl hin oder her. In der Empörung, die dem Kanzler entgegenschlägt, lässt sich freilich auch gewerkschaftliche Genugtuung darüber ausmachen, endlich wieder eine Existenzberechtigung vorweisen zu können: Wer, wenn nicht die Gewerkschaftsmacht, soll den Untergang des Sozialstaates verhindern."

Die Zeitung NEUES DEUTSCHLAND aus Berlin kommentiert:

"Lange Zeit erschien der zaghafte gewerkschaftliche Widerstand gegen Hartz, Rürup und Agenda 2010 wie jenes berühmte ängstliche Pfeifen im Walde. Viele Gewerkschaftsfunktionäre versuchten, mit Schröder und den Seinen doch noch gütlich überein zu kommen - und den beabsichtigten Abbau des Kündigungsschutzes, die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau und die Beendigung der paritätisch finanzierten Krankenversicherung in alter Freundschaft zumindest zu entschärfen. Doch der Kanzler hat auf derlei Genossenschaft gepfiffen - jetzt erntet er das schrille Echo von seinen Wählern und Parteifreunden bei IG Metall, IG BAU oder ver.di."

Die MÄRKISCHE ODERZEITUNG kommt zu der Einschätzung:

"Die Entfremdung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften wird die Berechenbarkeit sozialpolitischer Entscheidungsprozesse in der vorparlamentarischen Phase ins Wanken bringen. Und für die SPD, derzeit ohnehin innerlich hin- und hergerissen zwischen tief wurzelnden Sozialtraditionen und politischem Pragmatismus, könnte eine dauerhafte Abwendung ihrer Traditionsverbündeten - die ja auch ihr wichtigstes Wählerpotential darstellen - den langfristigen Verlust der Regierungsfähigkeit nach sich ziehen. Schröder befindet sich somit in einem im Grund unauflöslichen Konflikt: Setzt er sein von nahezu allen Fachleuten für richtig befundenen Kurs fort, gefährdet er den Rang seiner Partei als Volkspartei; vollzieht er eine Kehrtwende, setzt er seine Kanzlerschaft aufs Spiel.

Soweit die Presseschau.