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Pressestimmen von Freitag, 06. Oktober 2006

Thomas Grimmer 5. Oktober 2006

Kompromiss zur Gesundheitsreform

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Die Spitzen von Union und SPD haben ihren Streit über die Gesundheitsreform beigelegt. Während Koalitionsvertreter die Einigung als soliden Erfolg werten, spricht die Opposition von Gesichtswahrung und einem faulen Kompromiss. Auch die Kommentare der deutschen Tagespresse sparen nicht mit Kritik.

So heißt es im Bonner GENERAL-ANZEIGER:

"Frei nach dem Motto: 'Wenn mich keiner lobt, dann tue ich es eben selbst' haben (...) die Koalitionäre den Kompromiss zur Gesundheitsreform gefeiert. Doch in welcher Welt leben diese Politiker? Das Gesundheitssystem sollte mit der Reform dauerhaft gesichert werden. Wird es nicht. Es sollte auf breiter Basis mehr Wahlfreiheiten und mehr Wettbewerb geben. Beides kommt nur in bescheidenem Ausmaß. Es sollte transparenter werden. Wird es nicht. Und es sollte weniger bürokratisch werden. Das Gegenteil tritt ein. Das heißt: Noch nicht einmal von dem sprichwörtlichen Schritt in die richtige Richtung (...) kann ohne Einschränkungen die Rede sein."

Ähnlich sieht es der Berliner TAGESSPIEGEL:

"Die Aufgabe war, eine Gesundheitsreform zu vereinbaren, die als Schlüsselwerk der Reformkunst einer schwarz-roten Regierung gelesen werden sollte. Doch dieses Versprechen wurde nicht gehalten. Das System wird nicht einfacher, es wird komplizierter. Es wird nicht kostenbewusster, sondern intransparenter. Es wird nicht gerechter, offener und effizienter. Es gibt nicht mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, im Gegenteil. Die gesetzlichen Krankenkassen werden mehr oder weniger gleichgesetzt."

Das HANDELSBLATT aus Düsseldorf wundert sich über die Siegerlaune mancher Politiker:

"Die Kanzlerin spricht von einem großen Erfolg, der SPD- Fraktionsvorsitzende Peter Struck gar von einer revolutionären Neuregelung. Alle Beteiligten führen sich als Sieger auf. Merkwürdig ist nur, dass die Begründungen dafür so gegensätzlich sind. (...) Mal dienen die wachsenden Steuermittel für die Krankenkassen dazu, die Beiträge für Kinder zu finanzieren, so die CDU, mal für die Finanzierung der wachsenden Ausgaben allgemein, so die SPD. Die CDU feiert den Einstieg in ihr Prämienmodell als ihren Erfolg. Die SPD brüstet sich damit, sie habe genau dies blockiert."

Der Leitartikler der STUTTGARTER ZEITUNG glaubt, dass die Koalitionäre ohnehin eher sachfremde Ziele verfolgen:

"Auch jetzt ist kein großer Wurf beschlossen worden, sondern nur der allerkleinste gemeinsame Nenner. Und der besteht einzig darin, das Gesundheitswesen bis zur nächsten Wahl möglichst so in der Schwebe zu halten, dass sowohl Union als auch SPD ihre diametral entgegengesetzten Konzepte im Falle des jeweils erhofften Wahlsieges doch noch durchsetzen können. Um vom eigenen Versagen abzulenken, versuchen die Koalitionsspitzen, den Bürgern Sand in die Augen zu streuen."

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG schreibt: "Das von der Koalition selbst zum Prüfstein ihrer Daseinsberechtigung erhobene 'Gesellenstück' geriet, wie zu befürchten war, zu einem monströsen Geschöpf (...). Nicht einmal Stoiber traut sich zu, dieses Flickwerk, angeblich ein Wunder an Transparenz, ohne die Hilfe seiner Beamten-Heerscharen zu durchschauen. Wenn diese Reform das Leuchtfeuer ist, das den weiteren Weg der großen Koalition erhellen soll, dann muß Deutschland sich auf düstere Zeiten einstellen."

Die WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG aus Essen sieht es so:

"Alle vernünftigen Ansätze, die der Arbeit von Monaten durchaus innewohnen, gehen im Machtgeschacher zwischen Union, SPD und Ministerpräsidenten unter. Die Koalitionäre hätten längst bewusst argumentieren müssen, dass der Gesundheitsfonds beide Modelle ermöglicht, Kopfpauschale und Bürgerversicherung, und hätten ihr Scheitern am gemeinsam geplanten Systemwechsel zugeben sollen. Damit hätten sie zwar ihr zentrales Versprechen öffentlich gebrochen, dass nämlich die Reformen dieser Regierung Bürgern langfristige Sicherheit bieten sollten. Aber das Eingeständnis wäre wenigstens ehrlich gewesen."

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG kann dem Kompromiss durchaus positive Seiten abgewinnen:

"Erstens: Alle Bürger sollen künftig wieder einer Krankenversicherung angehören, auch jene halbe Million Menschen, die aus dem System herausgefallen sind - der Sozialstaat holt sie wieder zurück. Zweitens: Die Kassenärzte müssen ihre Leistungen nicht mehr nach einem komplizierten, undurchschaubaren Punktesystem abrechnen - stattdessen dürfen sie ihre Arbeit wieder in Euro und Cent abrechnen. Drittens: Die Macht der Funktionäre wird beschnitten - künftig soll es nur noch einen Dachverband für alle Kassen geben. Viertens schließlich: Die Privaten Krankenkassen, die bislang nur vorgaben, dass sie für echten Wettbewerb im Gesundheitswesen sorgen, müssen sich diesem Wettbewerb nun tatsächlich stellen."

Der Kommentator der HEILBRONNER STIMME ist sich dennoch sicher:

"Die Zahl derer, die das beschlossene Gesundheitskonzept für tragfähig halten, passt in eine Telefonzelle. Die durchgeboxte Einigung mag als Kitt reichen, um die Bundesregierung vorerst zusammenzuhalten. Aber wer das Arbeitsergebnis, nicht die hehren Ankündigungen betrachtet, sieht nur Versagen auf der ganzen Linie. Selten ist ein Riesenprojekt so rasch zerredet worden und derart grandios gescheitert."