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Pressestimmen von Donnerstag, 28. Oktober 2004

zusammengestellt von Susanne Eickenfonder27. Oktober 2004

Sieg des Europa-Parlaments

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Die Abstimmung über die neue EU-Kommission ist verschoben worden. Der gewählte Kommissionspräsident Barroso zog angesichts einer drohenden Niederlage seine Personalvorschläge zurück. Mit diesem bisher einzigartigen Vorgang in der EU-Geschichte beschäftigen sich die meisten Kommentatoren der deutschen Tagespresse.

Das HANDELSBLATT schreibt:

"Das Europäische Parlament hat die neue Kommission des Portugiesen José Barroso zum Rückzug gezwungen. Durch den Machtkampf der vergangenen Tage ist die EU demokratischer geworden. Die Ablehnung trifft Barroso hart. Er ist angeschlagen, da er die Warnungen des Hohen Hauses nicht ernst genommen hat. Seinen Führungsanspruch im institutionellen Dreieck von Kommission, Ministerrat und Parlament hat er schon vor dem Amtsantritt verspielt."

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG greift den Gedanken auf:

"Jetzt ist Barroso schwer beschädigt, obwohl er sein Amt nicht einmal angetreten hat. Er wird - sollte er weiter machen wollen - fünf Jahre lang mit diesem Geburtsmakel behaftet sein. Wäre er unabhängig und stark gewesen, dann hätte er etwa den italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi mit Hilfe verbündeter Regierungschefs zur Auswechslung Rocco Buttigliones gezwungen. Dies hat er nicht geschafft, und das Publikum darf sich künftig fragen, welchen Hebel der Kommissions-Präsident bei widerstrebenden Interessen der Regierungschefs anzusetzen gedenkt."

TZ aus München stellt fest:

"So spannend war Europa noch nie. Der 'zahnlose Tiger', wie das Brüsseler Parlament oft genannt wird, hat plötzlich seine Krallen ausgefahren und in einer beispiellosen Revolte dem künftigen Kommissionspräsidenten seine Grenzen gezeigt. Und José Manuel Barroso kuschte.... So viel Aufmerksamkeit hatte Brüssel noch nie. Das ist der positive Apsekt von Barrosos überraschender Rolle rückwärts.... Die Schattenseite ist, dass die chaotisch verlaufende Kommissions- Findung einmal mehr zeigt, wie schwierig Europa zu regieren sein wird."

Die FREIE PRESSE in Chemnitz weist darauf hin:

"Auf die Mehrheit der Bürger dürfte das politische Strippenziehen vor, vielmehr aber noch hinter den Kulissen, abstoßend wirken und die ohnehin weit verbreitete EU-Verdrossenheit noch anwachsen lassen. Genau das braucht Europa jedoch am wenigsten."

Die FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND sieht dies ganz anders:

"Auf einen Schlag hat das Parlament sich als Machtfaktor etabliert, dem ein neuer Kommissionspräsident bei seiner Investitur mindestens genauso viel Aufmerksamkeit widmen muss wie den versammelten 25 nationalen Regierungen in der EU. Ein revolutionärer Wandel, wenn man bedenkt, wie stark die parlamentarische Kontrolle exekutiven Handelns unter den bisherigen Strukturen der europäischen Integration gelitten hat."

Ähnliche Überlegungen äußert die FRANKFURTER RUNDSCHAU:

"Vorbei sind die Zeiten, in denen Kanzler, Präsidenten und Premierminister die Abgeordneten offen als politisch leicht knetbare Masse und die Kommission sie still als politische Leichtgewichte missachten konnten. Der Europäische Rat und die Kommission werden ihr Verhältnis zum Parlament nun neu justieren müssen. Der Dritte im Bund der europäischen Machtstruktur meldet sich selbstbewusst zur Stelle."

Im KÖLNER STADT-ANZEIGER lesen wir:

"Wenn die Einsicht auch spät kam und eher der Eigendynamik von Trotz- und Gegenreaktionen geschuldet ist, so ist Europa doch endlich wieder einmal vom Kopf auf die Füße gestellt worden. Nicht die Beamten in Brüssel, nicht die Regierungen in den Mitgliedsländern, sondern die Volksvertreter haben das letzte Wort. Solche Macht- und Kraftproben des Parlaments würde man sich häufiger wünschen."

Abschließend noch die STUTTGARTER ZEITUNG. Zitat:

"Europas Volksvertreter haben dieses Mal nicht nur mit den Muskeln gespielt, sie haben sie auch eingesetzt. Der Sieg über die Kommission und den Rat der 25 Regierungen ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Parlamentarisierung der Europäischen Union. So war dieser denkwürdige Mittwoch in Straßburg vielleicht nicht ein guter Tag für José Manuel Barroso, aber ein guter Tag für die Demokratie."