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Pressestimmen von Donnerstag, 23. Februar 2006

Hajo Felten22. Februar 2006

Kabinett beschließt Haushalt / 100 Tage große Koalition

https://p.dw.com/p/81ng

Das Bundeskabinett hat den diesjährigen Haushalt und den
Finanzrahmen bis 2009 beschlossen. Der Entwurf sieht
Ausgaben in Höhe von rund 262 Milliarden Euro vor und eine
Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent. In den deutschen Tageszeitungen stoßen die Haushaltsbeschlüsse auf wenig Gegenliebe:

In den KIELER NACHRICHTEN heißt es dazu:

"Es ist schon abenteuerlich, wie der Finanzminister seinen
ersten Etat als großen Erfolg verkauft. Der Bund muss in diesem Jahr 38,3 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen, das sind rund sieben Milliarden mehr als im letzten Jahr. Peer Steinbrück sieht sich trotzdem auf dem Konsolidierungspfad, denn er hatte ursprünglich mit noch viel mehr Schulden gerechnet. Wenn das so ist, dann wird Steinbrücks Glückssträhne niemals abreißen. So schafft sich die neue
Bundesregierung ihre eigenen Erfolge. SPD-Fraktionschef
Peter Struck sprach gestern von den großen Möglichkeiten dieser Koalition. Allmählich wird klar, was Union und SPD darunter verstehen."

Die OFFENBACH POST kritisiert den inzwischen noch höheren Schuldenberg als zu Zeiten des bisherigen Rekordhalters Hans Eichel:

"Wieder soll gegen das Grundgesetz verstoßen werden - und
zwar ganz bewusst und kalkulierend; zum vierten Mal in Folge wird die Bundesrepublik die 3-Prozent-Defizitgrenze des
europäischen Stabilitätspakts einreißen. Von wegen
wohltönender Dreiklang von investieren, reformieren,
sanieren, mit dem unsere Finanzjongleure auch in der großen
Koalition ihre Konsolidierungsmelodie begleiten. Genauer
hingehört ist das Ganze, wie auch unter Rot-Grün, eher ein
quälender Missklang."

Ähnlich sieht es auch der Bonner GENERAL-ANZEIGER. Er
schreibt:

"Die nackten Zahlen sprechen für sich. Trotz eines hohen
Bundesbankgewinns werden 38 Milliarden Euro zusätzlich auf den schon gigantischen gesamtstaatlichen
Billionen-Schuldenberg getürmt. Um den Haushalt zukünftig
Grundgesetz- und Maastrichtkonform zu machen, muss der Staat ein gigantisches Steuererhöhungsprogramm auflegen, dessen nachfrageknebelnde Wirkung kein Politiker der großen Koalition ernsthaft in Abrede stellt."

Der Berliner TAGESSPIEGEL warnt vor den Folgen einer solchen Politik:

"Wo bleibt der fulminant angekündigte Plan, den Staat von
rückwärtsgewandten Ausgaben zu entlasten und für die Zukunft fit zu machen? Nur das vage Versprechen dafür ist im Haushalt angelegt. Dort nämlich, wo Milliardenkürzungen bei den Staatszuschüssen an Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung stehen. Allerdings geraten damit
die Sozialsysteme unter enormen Druck Reformdruck, von dem noch niemand weiss, ob SPD und Union ihm standhalten können."

Die Fraktionsspitzen von Union und SPD haben eine rundum
positive Bilanz der bisherigen Arbeit der großen Koalition
gezogen. Die ersten hundert Tage hätten große Erfolge
gezeigt, hieß es übereinstimmend. Die deutsche Presse
beurteilt die bisherige Arbeit der Koalition dagegen eher
zurückhaltend:

Für die WESTDEUTSCHE ZEITUNG aus Düsseldorf hat
Bundeskanzlerin Merkel bisher keinen Grund zur Freude:

"Irgendwann wird der schwere süßliche Duft ihrer
staatsfraulichen Auslands-Auftritte verfliegen. Der faule
Beigeschmack der ungelösten Probleme wird alles überdecken. Die Pläne zum Kombilohn, zum Mindestlohn und zur Revision der Hartz-IV-Gesetze köcheln auf kleiner Flamme. Die Reformen des Gesundheitssystems und der Pflegeversicherung befinden sich bestenfalls im Rohzustand. Bislang ahnt kaum jemand, welche dicken Brocken die Bürger noch schlucken müssen. Fest steht nur, dass die Mehrwertsteuererhöhung 2007 die Aufbruchstimmung versalzen wird. Spätestens dann wird es auch für Merkel bitter."

Die NEUE PRESSE aus Frankfurt warnt vor einer Ruhe vor dem Sturm:

"Bislang fühlen sich die Deutschen von der großen Koalition
und insbesondere der Kanzlerin gut regiert. Doch die Umfragen zeigen auch, dass es erhebliche Zweifel gibt, ob Union und SPD bei der Lösung der drängenden wirtschaftlichen und fiskalischen Zukunftsfragen entscheidend vorankommen. Wenn es hier nach den Landtagswahlen nicht mehr Mut zur Bewegung gibt, könnte sich die Ruhe, die die große Koalition bisher ausstrahlt, als trügerisch erweisen. Denn wer die Probleme nur vor sich herschiebt, macht sie nicht kleiner, sondern größer."

Die Berliner TAZ schreibt zu 100 Tagen Merkel:

"Nach der klassischen Rollenverteilung sind Parteien
Korrektive der Regierung, zumindest deren Antreiber. Diese
Aufgabe erfüllt zurzeit nur die Union. In ihrer Funktion als
CDU-Chefin hat Angela Merkel gerade erst auf dem
Wertekongress ihrer Partei bekräftigt, dass sie gern mehr Reformen durchsetzen wollte, wenn sie nur könnte.
SPD-Chef Matthias Platzeck und sein Vize Kurt Beck dagegen erwecken den Eindruck, für die Sozialdemokraten sei das Optimum schon erreicht, eine Steigerung des Glücks unmöglich."

Die Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT fragt, warum die
innenpolitische Bilanz der großen Koalition so viel
kümmerlicher ausfällt als die außenpolitische:

"Und was kann die Regierung für die Innenpolitik von ihrer
eigenen Außenpolitik lernen? Vor allem, dass Grundlinien
erkennbar sein müssen. Natürlich kann man von der Koalition
nicht verlangen, dass sie klar entscheidet, ob eine
nachfrage- oder eine angebotsorientierte Politik besser ist.
Schließlich wurde diese Regierung gerade deshalb so
zusammengewählt, weil sich das Volk selbst hier nicht
entscheiden mag."