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Pressestimmen von Donnerstag, 22. November 2007

Stephan Stickelmann21. November 2007

Halbzeit und China-Politik der großen Koalition

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Der Abgang von Franz Müntefering fällt mit der Halbzeit der großen Koalition zusammen. Grund genug für die deutsche Tagespresse, einen kritischen Blick auf das Bündnis von Christ- und Sozialdemokraten zu werfen. Dabei beschäftigen sich viele Zeitungen auch mit dem aktuellen Streit über den Umgang Deutschlands mit China.

Das NEUE DEUTSCHLAND notiert:

"Ein Halbzeit-Pfiff für die Große Koalition und ein Fußball für den scheidenden Vizekanzler Franz Müntefering - so sehr man sich auch um ein harmonisches Mannschaftsfoto bemühte - die Große Koalition bietet nach zwei Jahren gemeinsamen Dribbelns auf der Stelle ein wenig trautes Bild. Endlose Debatten, faule Kompromisse, verschobene Entscheidungen und nächtelange Auseinandersetzungen ohne Annäherung haben das Publikum genauso wenig bei Laune zu halten vermocht, wie die beschlossenen Ungerechtigkeiten zu seinen Lasten."

Die LÜBECKER NACHRICHTEN ergänzen:

"Die Krux dieser Regierung ist, dass sie so ungleich mit Zuspruch belohnt wird. Die Union fühlt sich inzwischen stark genug, die notleidenden Sozialdemokraten auch einmal zu brüskieren. Die wiederum sind so wund gescheuert von konstant miserablen Umfragewerten, dass sie nun ihr Heil in der Konfrontation suchen was ihnen auch nicht nützt, wenn man den Demoskopen glauben darf. Die guten Zeiten dieser Regierung sind leider vorbei. Und ausgerechnet jetzt ziehen erste Wolken am Konjunkturhimmel auf. Die zweite Halbzeit wird noch mühsam."

Die KIELER NACHRICHTEN kommentieren die Kontroverse vor allem zwischen Außenminister Steinmeier und Kanzlerin Merkel über die deutsche China-Politik - Zitat:

"Unter den Kanzlern Kohl und Schröder war Deutschland ein dicker Freund der Chinesen. Die konnten die Menschenrechte mit Füßen treten: Die deutschen Regierungschefs machten trotzdem ihren Kotau. Außenminister Frank-Walter Steinmeier, voraussichtlich nächster Kanzlerkandidat der SPD, ist gut beraten, sich von der Politik seines früheren Chefs Schröder abzusetzen. Zu den Leitlinien der Sozialdemokratie gehörte immer der Einsatz für die Unterdrückten, im eigenen Land ebenso wie in der Welt. Sich öffentlich so unkritisch auf die Seite der Herren Hu Jintao und Wladimir Putin zu schlagen, wird weder den Genossen noch den Wählern gefallen."

Anderer Ansicht ist die KÖLNISCHE RUNDSCHAU. Sie schreibt:

"Natürlich kann Merkel empfangen, wen sie will. Die Frage ist nur, wem der Besuch des Dalai Lama nützt. Den politischen Gefangenen in China gewiss nicht. Den um ihrer Autonomie ringenden Tibetern auch nicht. Merkel, die in China doch gerade für Offenheit warb, hat den Gastgebern jedenfalls ihre Absicht verschwiegen, das tibetische Oberhaupt zu empfangen. Die fühlen sich hintergangen. Der Zorn der Pekinger Führung schadet den Wirtschaftsbeziehungen, ohne irgendeinen Nutzen für die Menschenrechtssituation nach sich zu ziehen. Im Gegenteil, der jahrelang betriebene, behutsame Prozess des Dialogs über Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, der Früchte trug, wurde zunächst mal gestoppt. Nutzen hatte die Aktion natürlich dennoch. Die Kanzlerin hatte gute Bilder."

Auf einen besonderen Aspekt weist DER TAGESSPIEGEL aus Berlin hin:

"Nach lachenden Dritten muss in dieser Malaise niemand suchen - sie stehen Schlange. In wenigen Tagen reist Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy nach China, um eine Reihe lukrativer Wirtschaftsverträge abzuschließen. Und so, wie die große Koalition nach der Dalai-Lama-Visite den Schulterschluss mit der Kanzlerin vermissen ließ, fühlt sich auch in Europa niemand einer solidarischen Menschenrechtspolitik verpflichtet. Das schlechte Beispiel färbt ab. Steinmeier sagt, Menschenrechtspolitik sei keine Schaufensterpolitik. Sarkozy hörts gerne und profitiert von den deutsch-chinesischen Verstimmungen."

Die STUTTGARTER ZEITUNG schließlich konstatiert:

"Noch ist unklar, wohin Merkels Politik der offenen Worte am Ende führt. Es wäre riskant, wenn sie um der humanitären Symbolik und gut zu rechtfertigender Effekte willen riskieren würde, Deutschland zu isolieren. Ohne intaktes Verhältnis zu China und Russland sind globale Probleme nicht zu lösen: weder der Klimaschutz noch der Atomstreit mit dem Iran. Das ist kein Plädoyer für mehr Demut, sondern für mehr Realismus und für eine Renaissance der Diplomatie auch innerhalb der zerstrittenen Koalition."