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Pressestimmen von Dienstag, 1. November 2005

Ulrike Quast31. Oktober 2005

Müntefering tritt als SPD-Chef ab

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Franz Müntefering gibt nach einer deutlichen Abstimmungsniederlage im Parteivorstand seinen Posten als SPD-Chef auf. Damit hat er ein politisches Beben ausgelöst, mitten in den schwierigen Koalitionsverhandlungen mit der Union. Die Kommentatoren der deutschen Tagespresse beschäftigen sich fast ausschließlich mit Münteferings Entscheidung.

Die FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND ist der Ansicht:

"In ihrer strategischen Verwirrung hat die SPD aus Versehen den eigenen Vorsitzenden gekippt, der die Partei in die große Koalition führen wollte und sollte. Der Sturz des Franz Müntefering ist der größte anzunehmende Unfall für die SPD, und er ramponiert auch die künftige Koalition, noch bevor die überhaupt richtig geschlossen ist. Die Kanzlerin in spe, Angela Merkel, steht plötzlich ohne einen Vizekanzler da, der seine Partei auf Koalitionslinie halten könnte."

In der TAZ aus Berlin lesen wir:

"Münteferings Abgang ist für die von Schröders Egotouren ohnehin zerzauste SPD ein Unglück. Er verkörpert wie kein Zweiter sozialdemokratische Tugenden: zuverlässig, uneitel. Wer soll der SPD die schmerzhafte Sparpolitik nun glaubwürdig präsentieren - ein Technokrat wie Peer Steinbrück? Kaum. Ohne Müntefering kann sogar die gesamte Statik der großen Koalition zusammenbrechen. Das wäre ein Sieg des Irrationalen über das Vernünftige. Die SPD scheint sich derzeit selbst nicht zu verstehen."

Der NORDBAYERISCHE KURIER aus Bayreuth meint zur Seelenlage der SPD:

"Es ist die alte Last sozialdemokratischer Führungspersönlichkeiten, dass ihnen die eigenen Truppen die Gefolgschaft verweigern. Die SPD kopflos, Deutschland noch ohne neue Regierung. Wie es in Berlin weitergeht, steht in den Sternen. Viel dicker kann es nicht mehr kommen."

Zur Zukunft der Koalitionsgespräche mit der Union heißt es in der OFFENBACH POST:

"Nach diesem politischen Erdbeben ist wieder alles möglich - von der «Jamaika»-Konstruktion (Rot/ Gelb/ Grün) bis zu Neuwahlen, oder, sollte es denn ganz dumm laufen, bis zu Rot/ Knallrot/ Grün. So viele Fragezeichen und so viel Durcheinander hat es jedenfalls nach keiner Wahl gegeben. Und auch vor keiner, wie wir uns lebhaft erinnern. Schröders Neuwahl stand eben von Anfang an unter keinem guten Stern. Dass diese unerträgliche Situation nicht gerade förderlich ist für eine vernünftige und so notwendige, lebensnotwendige Reformpolitik, wird Deutschland in den nächsten Wochen womöglich knallhart zu spüren bekommen."

Die Tageszeitung DIE WELT schreibt über die Sozialdemokraten:

"Aus vermeintlich heiterem Himmel ist die Erkenntnis über die SPD gekommen, daß ein Bündnis mit der Union eben doch eine Richtungsentscheidung bedingt. (...) Franz Müntefering hatte nach dem Wahlabend darüber den Schleier mit Geschick und einigem Erfolg gelegt. In seiner Person allein wollte er den Widerstreit der Positionen aufnehmen und auflösen: als SPD-Vorsitzender und Vizekanzler im Kabinett; dazu mit engen Vertrauten in Fraktion und Parteizentrale. Mit der Wahl der Parteilinken Andrea Nahles als Generalsekretärin hat die Parteispitze - vielleicht sogar ungewollt - diese Hoffnung zerstört, die stets an Selbstbetrug grenzte."

LÜBECKER NACHRICHTEN kommen zu der Einschätzung:

"Gnadenlos, rücksichtslos, verantwortungslos, auch mit Blick auf die eigenen Wähler, auf das Land, hat der SPD-Vorstand gestern seinen Vorsitzenden in den Regen gestellt, demontiert, vom Schild geputzt, mitten in Koalitionsverhandlungen, mitten in einer Situation, in der es um die Zukunft Deutschlands geht. Man weiß gar nicht so recht, wie man diesen Abgrund der Anstandslosigkeit noch bezeichnen soll."

Die OSTTHÜRINGER ZEITUNG aus Gera fragt:

"Was nun, SPD? Ganz sicher wird heute die Floskel von der Krise als Chance viel zu hören sein. Mehr als verlegene Ratlosigkeit drückt sich damit aber nicht aus. (...) So wird die SPD wohl eine ganze Weile richtungslos dahintreiben. Und vielleicht muss man sogar noch froh sein, wenn die älteste und größte Volkspartei Deutschlands nicht ganz untergeht in bedeutungslose Mittelmäßigkeit."

Auch der GENERAL-ANZEIGER aus Bonn äußert Unverständnis:

"Was hat bloß jene 23 Vorstandsmitglieder, die für Andrea Nahles gestimmt haben, geritten, ihren wichtigsten Mann in dieser für Partei, Politik und Republik entscheidenden Phase derart zu demütigen und zu demontieren? Auch wenn einige ihm vielleicht nur einen Denkzettel verpassen wollten, haben sie doch zu kurz gedacht und zutiefst unvernünftig gehandelt. Im Ergebnis war dies der Aufstand gegen den Parteichef. Oder muss man den Rebellen unterstellen, die große Koalition im Grunde gar nicht zu wollen? Es fällt schwer zu entscheiden, was schlimmer ist."