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'Ein Vorurteil weggefegt'

5. November 2008

Die meisten Kommentatoren der internationalen Redaktionen zeigen sich freudig erstaunt über die Wahl Barack Obamas zum nächsten US-Präsidenten. Diese Wahl sei eine Lektion in Demokratie, meint ein Kommentator aus Paris.

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Symbolbild Internationale Presseschau p178

Mailand: "Schwarzer Roosevelt"

Der Mailänder "Corriere della Sera" meint: "Barack Obama, zu Beginn seines Wahlkampfs als der neue Kennedy gepriesen, hat die Ziellinie dann im Trikot des "schwarzen Roosevelt" überschritten - als der Mann, der Amerika mit einem New Deal vor dem Zusammenbruch retten kann. (...) Er hat sogar die Finanzwelt auf seine Seite gezogen, was überraschen mag, denn der demokratische Frontmann will den Gewerkschaften mehr Macht geben und beabsichtigt, dem freien Handelsverkehr Zügel anzulegen. Im Grunde hatte aber auch Roosevelts Politik in den 1930er Jahren viel Zeit darauf verwendet, für Arbeitsplätze zu sorgen, und war gleichzeitig ein Allheilmittel für die Börse. Verstört durch die Krise hungert das heutige Amerika jedenfalls nach Sicherheit, es will sehen, dass es ein Projekt gibt, einen Weg. Diesen hatte Obama den Amerikanern rechtzeitig vorgegeben, während John McCain im Wahlkampf noch sein Drehbuch ändern musste."

London: Obama kann Ansehen wieder herstellen

Obama winkt (AP Photo/Pablo Martinez Monsivais)
Wird schon jetzt verglichen mit Franklin D. Roosevelt und John F. Kennedy: Barack ObamaBild: AP

Die konservative britische Zeitung "The Daily Telegraph" schreibt: "Obama wird als erster schwarzer Präsident gefeiert, doch es ist seine gemischtrassige Abstammung, die der Schlüssel zu seinem Charakter ist. Er hat sich nicht über seine Rasse identifiziert, was immer in eine politische Sackgasse führt, sondern hat die Werte betont, die alle Amerikaner unabhängig von ihrer Abstammung miteinander verbinden. Obama könnte Amerikas Sicht von sich und die Sicht der Welt über Amerika verändern, die selten so schlecht war. Barack Obama, 44, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, kann das Ansehen seines Landes als Kraft für das Gute in der Welt wiederherstellen: Das ist die wichtigste Veränderung, die er herbeiführen kann."

Paris I: Klischees von gestern

Die linksliberale Pariser Zeitung "Libération" kommentiert: "Bei dieser Wahl wird ein französisches Vorurteil über die Amerikaner weggefegt: Alle vier Jahre beklagen wir die schwache Wahlbeteiligung in den USA. Doch das ist ein Klischee. Angesichts einer historischen Herausforderung und dank der technologischen Erneuerungen des Internets haben wir eine beispielhafte Mobilisierung der amerikanischen Wähler erlebt. Es gab beeindruckende Warteschlangen vor den Wahllokalen und auch die Begeisterung, die sich bei dieser Wahlpflicht äußerte, war außergewöhnlich. Wir mussten auch unsere Meinung über amerikanische Vorurteile revidieren. Erstmals wurden ein Afroamerikaner und eine Frau als Kandidaten für das höchste Staatsamt aufgestellt. Es scheint, als könnte Amerika uns eine Lektion in Demokratie erteilen."

Paris II: Im Einklang mit der Welt

Die Pariser Zeitung "Le Monde" schreibt: "Im Inneren verteidigt Barack Obama ein Programm, das besser an die amerikanische Wirtschaftskrise angepasst ist: Erneuerung der regulierenden Rolle des Staates; eine Steuerpolitik, die immer stärkere Ungleichheiten in der Gesellschaft bekämpft; der Wunsch, eine Krankenversicherung zu schaffen, die dem Reichtum des Landes würdig ist (...) In der Außenpolitik wird ein demokratischer Präsident keine Wunder vollbringen. Aber Barack Hussein Obama wird schon durch seine Persönlichkeit stärker mit einer Welt in Einklang stehen, deren wirtschaftlicher und politischer Mittelpunkt nicht mehr der Westen ist. (...) Gegenüber steht John McCain, der lange ein Mann der Mitte war und immer weiter nach rechts rückt. Er glaubt nur gewinnen zu können, indem er Amerika spaltet.

Oslo: Bush-Jahre erzeugten Frustration

Die konservative norwegische Tageszeitung "Aftenposten": "Am Tag nach den Präsidentschaftswahlen hoffen viele, dass wir vor einer neuen Ära im Verhältnis zwischen den USA und dem Rest der Welt stehen. Die Haltung gegenüber diesem Land gehört zu den Paradoxien in der internationalen Politik. Misstrauen und Pessimismus wechseln einander mit Vertrauen und Optimismus ab. Leider haben die Jahre mit George W. Bush starke Frustration nicht zuletzt in Europa erzeugt. Vor allem seine erste Amtszeit war von außenpolitischen Alleingängen geprägt, die zu einer schweren Belastung im Verhältnis zu vielen Freunden geführt haben. Heute gilt es, den Blick nach vorn zu richten. Ein US-Präsident muss natürlich in erster Linie die Interessen seines eigenen Landes berücksichtigen. Aber das bedeutet nicht dasselbe wie eine komplette Abmeldung. Die Welt braucht die USA als konstruktiven Mitspieler bei der internationalen Zusammenarbeit in allen Bereichen."

Wien: Den Irak sich selbst überlassen

Der Wiener "Kurier" glaubt, dass die USA nach der Präsidentschaftswahl eine Politik des "neuen Realismus" braucht: "Der nächste US-Präsident wird den Irak sich selbst und seinen gnadenlos um Öl, Geld und Macht ringenden Bevölkerungsgruppen überlassen müssen. Er wird, ungeachtet aller Wir-fangen-Bin-Laden-Parolen, einsehen müssen, dass keine Macht der Welt Afghanistans kriegerische Bergvölker in das dort nutzlose Korsett von parlamentarischer Demokratie zwängen kann. Dieser Präsident wird einsehen müssen, dass man weder der Finanzkrise noch der globalen Klimaerwärmung allein nach den Spielregeln der USA begegnen kann.(...) Nicht nur die USA, auch der Rest der Welt braucht dringend einen neuen amerikanischen Realismus. Amerika muss sich auch als Schuldner, als gescheiterter Kriegsherr, als technologischer Nachzügler begreifen lernen, nur dann kann es den Anspruch, den es zu Recht hat, für alle gewinnbringend neu formulieren: den Anspruch auf die Führungsmacht der westlichen Welt."

Zürich: Neue politische Landkarte

Die "Neue Zürcher Zeitung" kommentiert: "Obama hat die politische Landkarte neu gezeichnet und in Gebieten triumphiert, die über Jahrzehnte hinweg als republikanische Hochburgen gegolten hatten. … Historisch ist der Wechsel schon deshalb, weil am 20. Januar auf den Stufen des Kapitols in Washington erstmals ein Afroamerikaner den Amtseid als Präsident ablegen wird. Skeptiker hatten bis zuletzt bezweifelt, dass Amerika "reif" für einen Schwarzen im Weissen Haus sei. Auf dünner Faktenbasis wurde behauptet, dass die Umfragen verzerrt seien, weil manche weisse Wähler in der Wahlkabine ihren rassistischen Ressentiments freien Lauf lassen würden. Doch der vielzitierte "Bradley-Effekt" blieb am Dienstag aus. Amerika hat bei der Überwindung der alten Rassenschranken einen weiten Weg zurückgelegt. Überhaupt spielten Rassenspannungen im Wahlkampf eine bemerkenswert geringe Rolle. … Amerika hat eine politische Erneuerung dringend nötig, und in diesem Sinne bringt der Sieg Obamas eine willkommene Blutauffrischung. Aber mit seiner Wahl wagen die Amerikaner einen Sprung ins Ungewisse. Die mangelnde Erfahrung des Demokraten hat sich in der Kampagne wiederholt gezeigt. Wie der Gewählte regieren wird, bleibt eine offene Frage. Sein Charisma wird ihm im Amt helfen, aber nicht ausreichen, um konkrete Herausforderungen wie die Sicherung der Altersvorsorge oder die Stabilisierung des Iraks zu bewältigen.

(mas)