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Leben mit der Scharia

Kristina Tschenett, zurzeit Banda Aceh7. Dezember 2006

Nach Jahrzehnten Bürgerkrieg gibt es in der indonesischen Unruheprovinz Aceh zum ersten Mal Gouverneurswahlen. Seit 2005 genießt die Region Sonderrechte und hat das islamische Recht, die Scharia, zum Gesetz erhoben.

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Frauen mit Kopftüchern schneiden vor ihnen knieenden Frauen die Haare (Foto: AP)
Als Strafe für Prostitution werden Frauen in Banda Aceh die Haare abgeschnittenBild: AP

Fira trifft sich regelmäßig mit ihren Freundinnen im Spielecenter Funland. Die 22-jährige Medizinstudentin aus Banda Aceh liebt Tanzen, und hier ist die einzige Gelegenheit: Ein Musikautomat, der auf dem Boden durch kleine Leuchtflächen eine Choreografie vorgibt. Ein Spiel, kein Tanz! Denn öffentliches Tanzen ist in Aceh verboten, seit Anfang des Jahres die neuen Scharia-Gesetze eingeführt wurden. Doch die, findet Fira, sind streng und nicht gerecht: "Wir müssen Röcke tragen und langärmelige T-shirts, aber die Männer können alles anziehen." Fira und ihre Freundinnen dürfen auch keinen Freund haben und mit keinem Mann ausgehen.

Die Scharia-Polizei kontrolliert die Einhaltung der Gesetze

Verschleierte Frau auf einem Markt in Banda Aceh (Foto: AP)
Für Frauen herrscht in Aceh KopftuchpflichtBild: AP

Eigentlich ist die Scharia kein festgeschriebenes Regelwerk, sie wird regional sehr unterschiedlich gehandhabt. Muslimischen Frauen in Aceh schreibt sie vor, Kopftücher zu tragen. Sie verbietet allen Alkohol, Glücksspiel und außerehelichen Sex. Über die Einhaltung dieser Regeln wacht Commander Fakrit mit seinen Männern von der Scharia-Polizei. Seine Männer, so Fakrit, seien alle religiöse Lehrer: "Früher konnten sie nur mit Worten predigen, jetzt haben sie die Autorität und die Macht, die Regeln auch tatsächlich durchzusetzen."

Das bedeutet, dass sie mit ihrem Polizeiwagen auf Patrouille durch Banda Aceh fahren um die Menschen zu finden, die gegen die Scharia verstoßen. Heute kontrollieren sie die Küste. Am Wasser stellen die Männer tatsächlich ein junges Pärchen. Die beiden sitzen allein am Meer. Sie hat auch noch ihr Kopftuch abgenommen. Von den Männern umringt, müssen beide nun ihre Papiere zeigen: Sie sind nicht verheiratet. Commander Fakrit hält dem zierlichen Mädchen eine Moralpredigt, bis es vor Scham anfängt zu weinen. Kurz darauf lässt er die beiden aber ziehen. Sie bekämen heute keine Strafe, so Fakrit, weil es das erste Mal gewesen sei: "Aber sie dürfen das nicht wieder tun."

Gegen Frauen werden Befugnisse oft überschritten

Festnehmen dürfen die Männer eigentlich sowieso niemanden. Daran halten sie sich jedoch nicht immer. Soraya, eine der Mitbegründerinnen der Frauenrechtsorganisation Flower, empört sich, dass die Scharia-Polizei gerade gegenüber Frauen immer wieder ihre Befugnisse überschreitet. Wenn sie zum Beispiel kontrolliere, ob Frauen ein Kopftuch trügen, dürften sie eigentlich nur Empfehlungen aussprechen: "Aber oft nehmen sie die Frauen einfach mit auf die Dienststelle. Und lauter Typen fahren dann mit ihrem Motorrad hinterher, um die Frauen zu demütigen, die wie Kriminelle behandelt werden."

Ziel der Prügelstrafe ist Demütigung

Zwei Polizistinnen halten eine verschleierte Frau an den Armen (Foto: AP)
Eine Frau wird in Banda Aceh zur Prügelstrafe auf eine Bühne geführtBild: AP

Wer mehrfach gegen die Regeln der Scharia verstößt, dem droht in Aceh die Prügelstrafe. Weit über hundert solcher Fälle hat es schon gegeben. Dieses Mal soll ein Student für außerehelichen Sex bestraft werden. Seine Freundin ist schwanger. Vollstreckt wird das Urteil öffentlich auf einer kleinen Bühne vor der Moschee. Anwar Idris, Chef der regionalen Scharia-Behörde sieht die Strafe als eine Lektion für die ganze Gesellschaft, die die Grenzen in der Religion zeigen soll. Das Publikum zählt die Schläge mit – sieben an der Zahl. In Aceh fallen die Strafen damit vergleichsweise milde aus. Zehn Stockhiebe sind die Höchststrafe, Ziel ist die öffentliche Demütigung.

Aceh gilt als die strenggläubigste islamische Provinz in Indonesien. Aber inzwischen haben schon mehr als 20 weitere Städte und Regionen ebenfalls die Scharia eingeführt. Das Land tendiert zu einem immer konservativeren Islam. Fira und ihre Freundinnen glauben aber, dass das Leben in einer Großstadt freier ist als in Banda Aceh: "Die können tanzen gehen oder in einen Club, aber wir hier können das nicht, wir haben die Scharia." Woanders leben wollten die Mädchen trotzdem nicht, selbst wenn sie könnten.