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Einstiger Musterschüler

Tilo Wagner11. Oktober 2012

Portugal - bisher Musterschüler unter den EU-Schuldenstaaten. Als Belege gelten die Erfolge bei der Haushaltskonsolidierung und stabile politische Verhältnisse. Beides ist jetzt in Gefahr.

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People protest outside the presidential palace in the Lisbon suburb of Belem during a meeting of the State Council, a presidential advisory body, Friday, Sept. 21, 2012. Portugal's President Anibal Cavaco Silva called the state council members to discuss the current economic and political situation in the country. The banner with the photo of the Portugal's Prime Minister Pedro Passos Coelho reads in Portuguese: "Thief". (Foto:Francisco Seco/AP/dapd).
Portugal Protest gegen SparpläneBild: AP

Wenn Myriam Zaluar an eine Protestaktion ihrer Zivilbewegung denkt, dann weiß sie nicht so recht, ob sie weinen oder lachen soll. Mit einem halben Dutzend Arbeitslosen hatte sich die Aktivistin vor einem Lissabonner Arbeitsamt getroffen, um gegen ihrer Ansicht nach gefälschte Zahlen zu protestieren. Die Arbeitslosenquote hat in Portugal mittlerweile fast 16 Prozent erreicht, doch nach Einschätzung von Experten müsste sie noch höher liegen, weil viele Erwerbslose einfach nicht eingeschrieben sind.

Zu der Protestaktion kamen mehr Polizisten und Journalisten als Demonstranten. Rund einen Monat später erhielt Myriam eine Vorladung vor Gericht: Die arbeitslose Lissabonnerin wurde angeklagt, werktags eine Demo vor 19 Uhr abends veranstaltet zu haben. Das sei nach einem fast vierzig Jahre alten Gesetz verboten. Wer hinter der Anzeige steht, weiß Myriam bis heute nicht: "Ganz offensichtlich geht jedoch jemand ganz bewusst gegen die Demonstranten vor. Auch andere Aktivisten wurden aus fadenscheinigen Gründe angeklagt."

Eine Porträtaufnahme von Myriam Zaluar (Foto: Tilo Wagner)
Der Aktivisten Myriam Zaluar aus der Protestbewegung droht ein GerichtsverfahrenBild: Tilo Wagner

Demonstranten machen mobil

Die zivile Protestbewegung in Portugal hat sich davon jedoch nicht aufhalten lassen. An einer spontanen Demonstration gegen die neuen Sparmaßnahmen der Regierung und das Reformprogramm der Troika, sollen Mitte September rund 1 Millionen Menschen beteiligt gewesen sein. So viele Portugiesen hatten noch nie ihrem Unmut auf der Straße Nachdruck verliehen. Mobilisiert wurden die Demonstranten nicht über Oppositionsparteien oder Gewerkschaften, sondern über Soziale Netzwerke im Internet. "Die wichtigste Erkenntnis ist: Der Protest geht unvermindert weiter," sagt Myriam Zaluar. "Denn die Krise hat sich verschärft und sehr viele Menschen wissen keinen anderen Ausweg mehr."

Das politische Klima in Portugal hat sich im vergangenen Monat grundlegend verändert. Die konservative Regierungskoalition stand kurz vor dem Aus, weil die kleinere Volkspartei ihre Kritik an den jüngsten Sparvorschlägen öffentlich vortrug. Die Regierung bemüht sich nun, die Risse zu kitten. Doch die Portugiesen müssen sich auf neue Sparmaßnahmen einstellen.

Graffiti auf einer Mauer (Foto: Tilo Wagner)
Politisch motivierte Graffitis in Lissabon – häufig mit Bezug zur NelkenrevolutionBild: Tilo Wagner

Suche nach politischen Alternativen

Die Einkommensteuer wird durchschnittlich im kommenden Jahr um fast 35 Prozent angehoben. Denn der Staat muss im kommenden Jahr rund 3 Milliarden Euro mehr einnehmen, und das obwohl die Troika aus EU, IWF und Europäischer Zentralbank das Defizitziel für 2013 von 3 auf 4,5 Prozent nach oben korrigierte. Von der Regierungskrise versuchen die Linksparteien in der Opposition zu profitieren. Ein Gesamtbündnis der gemäßigten Sozialisten mit den Kommunisten und dem Linksblocks scheiterte bisher immer an unüberbrückbaren ideologischen Unterschieden. Das soll sich nun ändern.

Auf einem Kongress in der Universität Lissabon kommen Hunderte von politischen Linksaktivisten zusammen, um eine alternative Politiklinie zu entwerfen. Der riesige Hörsaal ist brechend voll. In den Reden erinnern viele Aktivisten an die Nelkenrevolution, die Mitte der 1970er Jahre dem autoritären Regime ein Ende gesetzt hatte. Freiheit und soziale Gerechtigkeit müssten nach Meinung vieler Kongressteilnehmer auch jetzt wieder in Portugal zurückgewonnen werden. "Wir wissen noch nicht wohin das Ganze jetzt führt," sagt der ehemalige Gewerkschaftsführer Manuel Carvalho da Silva im Gespräch mit der DW. "Wichtig ist, dass sich diese Bewegung nicht mehr aufhalten lässt. Historische Momente lassen sich nicht vorausplanen. Sie passieren einfach."

Ein Demonstrant mit einer Maske hölt eine Gefängniskette hoch. (Foto:REUTERS)
Ein Demonstrant mit einer Maske, die Regierungschefs Passos Coelho darstellen sollBild: REUTERS

Auswandern wegen Perspektivlosigkeit

Vor der Treppe zum Aufgang in die Kongresshalle sitzen drei Studenten. Sie verlangen neue Ideen von der Politik, damit die Jugend von heute nicht zu einer verlorenen Generation wird. Die 20-jährige Clara Rita studiert Psychologie: "Einige meiner Kommilitonen haben das Studium schon abbrechen müssen, weil ihre Eltern sie nicht mehr unterstützen können." Ihr Studienkollege Vitor Azevedo steht kurz vor dem Abschluss. Auch er macht sich keine Illusionen: Um einen Job zu finden, muss er wahrscheinlich auswandern: "Das macht mich traurig. Ich mag meine Heimat und würde gerne hier leben. Aber es gibt kaum Perspektiven."

Linkskräfte bei einem Kongress in einem Hörsaal (Foto: Tilo Wagner)
Linkskräfte suchen in Portugal nach neuen Wegen aus der KriseBild: Tilo Wagner