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Popcorn und Prothesen

Sebastian Schlegel 10. August 2007

Michael Moores neuester Film Sicko zieht diesmal über das amerikanische Gesundheitssystem her. Kein Film, bei dem sich Popcorn nebenbei so richtig gut genießen ließe.

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Bild: DW

Nach einem kulturell hochwertigen Museumssamstag, schrieb ich mir selbst Entspannung auf meinen Terminplan; und wer könnte bessere Popcornunterhaltung liefern als Michael Moore? Aber zum Popcorngenuss lädt Moores neuester Film Sicko nicht wirklich ein.

Der Berufskritiker zieht diesmal über das amerikanische Gesundheitssystem her und zeigt Schicksale von Menschen, die sich entscheiden müssen, ob sie lieber ihren Ringfinger annähen lassen wollen - für schlappe 12.00 Dollar - oder doch lieber den Mittelfinger für 60.000 Dollar. Das geht an die Nerven und führt zu kopfschüttelnden Besuchern im Saal. Entertainment bietet die Dokumentation trotzdem.

Ground Zero-Helfer gegen Guantanamo-Häftlinge

Gekonnt nutzt Moore die Schwächen der Regierung und verwendet sie gegen die Machthaber. Das Rezept ist simpel aber wirksam: Man nehme ein paar ehemalige Helfer von Ground Zero (hierzulande Nationalhelden), die seit ihren Rettungsarbeiten unter Atembeschwerden leiden und heute keinerlei Gesundheitsversorgung vom Staat erhalten.

Ihnen stellt man die Talibanhäftlinge von Guantanamo Bay gegenüber, die nach Genfer Menschenrechtskonvention medizinische Pflege genießen. Dann packt man die Nationalhelden in ein Boot und schippert sie zum amerikanischen Militärstützpunkt auf Kuba, um dort die ärztliche Hilfe zu beanspruchen, die den Terroristen zur Verfügung steht. Wie erwartet, weisen die Soldaten die Delegation ab. Genial und medienwirksam. Wiederum Kopfschütteln im Kinosaal, aber diesmal mit Lachern versetzt.

Blick über den Teich

Ein besonders interessanter Abschnitt zieht sich durch die Mitte des Films. Michael Moore begibt sich auf Erkundungsreise nach Europa. Großbritannien und Frankreich stehen auf dem Vergleichsplan. Und siehe da: die Europäer gehen einfach in irgendein beliebiges Krankenhaus oder zu einem Doktor ihrer Wahl und werden umgehend behandelt - ohne etwas zu bezahlen. In Frankreich kommt der Arzt sogar rund um die Uhr in die eigene Stube. Und trotz Gehalt vom Staat kann sich der britische Heilfachmann ein eigenes Haus und einen Audi A6 leisten. Wow, das beeindruckt den Amerikaner - sowohl Moore als auch meine Sesselnachbarn.

Noch schnell alle anderen europäischen Errungenschaften inmitten einer Runde ausgewanderter Landsleute aufgezählt: bezahlter Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Erziehungsurlaub, Kindergeld, etc. Und das alles ohne Kommunismus! Ergebnis: aufgeregtes Getuschel in der Flimmerbude.

Äpfel mit Birnen verglichen

Nach Moores eindringlichem Plädoyer für das europäische Modell müssten eigentlich alle Kinobesucher aus den Sesseln springen, den Kongress stürmen und unverzüglich einen Systemwechsel fordern. Doch so sehr sich die Amerikaner im Laufe des Films auch amüsieren, schockieren und brüskieren, ihnen ist durchaus bewusst, dass der in Flint, Michigan, aufgewachsene Sittenrichter zwei wichtige Punkte einfach unterlässt: erstens gibt er keinerlei Vorschläge zur Lösung des Problems und zweitens vergleicht er im Grunde genommen Äpfel mit Birnen.

Die amerikanische und die europäische Gesellschaft sind sich nämlich so ähnlich wie Löwen und Tiger. Man gehört derselben Gattung an, und irgendwann gab es mit Sicherheit gemeinsame Vorfahren. Mit der örtlichen Trennung verfolgte man jedoch getrennte Entwicklungspfade. Amerikaner stehen für eine liberale, auf das Individuum gestützte Lebensart. Persönliche Freiheit steht über dem Staat.

Die Europäer hingegen konnten sich zu keiner Zeit von der Staatsmacht lösen, profitieren dafür aber noch heute von den staatlichen Sozialversicherungen - auch wenn diese teilweise den finanziellen Krückstock benötigen. Automatisch lernten die Bürger Europas für ihre Vorzüge zu löhnen. Sie akzeptieren den staatlichen Eingriff, weil er zu ihrem Wohl ist, und zahlen brav - im Vergleich zu den USA - exorbitante Steuern. Spätestens an diesem Punkt sähe man wiederum einen kopfschüttelnden Amerikaner vor sich, diesmal allerdings einen, der sich mit Abscheu abwendet.

50 Millionen sind nicht versichert

Das amerikanische Gesundheitssystem ist lückenhaft, keine Frage. 50 Millionen unversicherte Bürger, horrende Abrechnungen und Ablehnungen teurer Behandlungsmethoden durch kapitalistisch gesteuerte Versicherungsgesellschaften. Nicht umsonst platziert sich die USA an Nummer 37 auf einer weltweiten Vergleichsliste der medizinischen Versorgung.

Ganz so einfach, wie Michael Moore es sich vorstellt, ist der Wandel dann aber doch nicht; und das weiß er auch, wie er in einem Radiointerview vor kurzem unter Beweis stellte. Dort stellte er Lösungsansätze vor und zeigte einen differenzierten Blick auf das europäische Modell. Schade, dass der Dauernörgler sein Wissen im Film unterschlagen hat. Dann wäre es nämlich mehr als nur Popcornkino.

Sicko, der neue Film von Michael Moore erscheint in Deutschland am 11. Oktober 2007