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Weniger Pflegefamilien für Flüchtlinge?

Wolfgang Dick24. Juli 2016

Der 17-jährige Attentäter von Würzburg galt als gut integriert und lebte zuletzt in einer Pflegefamilie. Inwieweit schreckt der Vorfall nun potenzielle Gastfamilien ab, junge Flüchtlinge aufzunehmen?

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Minderjährige Flüchtlinge sitzen auf einer Bank. (Foto: dpa, Daniel Karmann)
Bild: picture-alliance/dpa/D. Karmann

Das Attentat vom Montagabend wirkt nach. Aber auf die Frage, ob sich Gastfamilien für junge Flüchtlinge nach dem schrecklichen Vorfall in Würzburg zurückziehen oder ob es weniger Angebote von Gastfamilien gibt, kommen bundesweit klare Antworten: "Nein. Es ist alles noch viel zu frisch", sagt Helga Siemens-Weibring, die seit vier Jahren Leiterin des Geschäftsbereichs Familie, Bildung und Erziehung bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe ist. "Nein", sagt auch Udo Stein, Leiter des Jugendamtes Bonn. "Wir haben nach wie vor eher mehr Aufnahme-Angebote von interessierten Pflegefamilien, als wir eigentlich benötigen. "Nein. Würzburg hat noch keine Auswirkungen bei uns gezeigt", sagt ebenso Peter Heinßen, der Geschäftsführer des Vereins "Familien für Kinder", der in Berlin den Jugendämtern potentielle Pflegeeltern vermittelt.

Nach der ersten Welle der bedingungslosen und schnellen Hilfsbereitschaft im vergangenen Jahr gäbe es dennoch einen Rückgang des Interesses von Pflegefamilien, Flüchtlinge aufzunehmen, berichtet Heinßen: "Nach den sexuellen Übergriffen von Köln ist die Bereitschaft deutlich merkbar zurückgegangen." Das bestätigen andere Träger sozialer Dienste. "Köln" habe für die Hilfsbereitschaft "verheerende Signale" gesendet. Die Reaktionen auf "Würzburg" würden sicher nicht so groß sein. Man erkenne, dass dies ein besonderer Einzelfall gewesen sei.

Helga Siemens-Weibring (Foto: Imago)
Helga Siemens-Weibring spürt noch keine Auswirkungen nach dem Würzburger AttentatBild: Imago

Wie können Pflegeeltern eine Radikalisierung erkennen?

"Von allem, was ich aus der Presse weiß, soll der Attentäter schnell Deutsch gelernt und gezeigt haben, dass er integrationswillig ist, eine Radikalisierung war danach nicht zu erkennen", sagt Helga Siemens-Weibring. Sie habe selbst zwei Söhne und wisse, wie schwierig schon die eigenen Kinder manchmal sein können. "Wie mag das dann erst bei fremden Kindern sein, von denen zwischen 50 bis 75 Prozent eine schlimme Erfahrung mit Krieg und Flucht gemacht haben? Diese Traumata zeigen sie nicht immer gleich", ergänzt sie.

Ihrer Aussage stimmt Peter Heinßen vom Verein "Familien für Kinder" zu. "Siebzehnjährige sind schon sehr selbstkontrolliert. Wenn sie einen solchen Jugendlichen zwei Wochen betreuen, dann können sie noch nicht erkennen, ob der irgendwie radikalisiert ist." Ein wahrer Eindruck von der Persönlichkeit entstehe erst nach längerer Zeit durch Vertrauen. "Erst wenn junge Flüchtlinge in der Familie fest verankert sind, lassen sie ihre alten Geschichten raus."

Für Heinßen hat sein Verein aber nicht die Aufgabe, eine Radikalisierung zu überprüfen. Das liege eher im Verantwortungsbereich von Verfassungsschutz und Polizei. "Aber natürlich, wenn wir so etwas mitkriegen würden, dann würden wir das auch melden. Melden müssen. Aber das war bisher nicht Thema", weiß er zu berichten.

Wie Pflegefamilien ausgewählt werden

Für die Auswahl von Pflegefamilien gibt es strenge Regeln. Das Verfahren sieht in der Regel so aus, dass die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge nach ihrer Registrierung durch ein Jugendamt begleitet werden - im Sinne eines Vormundes. Eine interessierte Pflegefamilie wird folglich zuerst durch dieses Amt überprüft. Jugendamtsleiter Udo Stein zählt die Kriterien dabei auf. "Zuerst schauen wir auf die Persönlichkeit der Gasteltern. Es bedarf bei ihnen großer Belastbarkeit. Da darf es kein 'Trial and Error' geben." Die Lebensumstände müssten stimmen. Es sollten ausreichend finanzielle Mittel vorhanden sein sowie eine aufgeräumte, saubere Wohnung, die auch ein eigenes Zimmer für den Flüchtling bietet. Pflegeeltern, die in einer stabilen Paarbeziehung lebten, würden bevorzugt.

Die ausgewählten Familien könnten auf die Unterstützung des Jugendamtes zählen: "Wir lassen von Anfang an keine Pflegeltern alleine. Sie bekommen Sozialpädagogen und Fachberater an ihre Seite", berichtet Udo Stein.

Pflegeeltern erhalten in Bonn - wie in anderen Städten auch - eine intensive und fortlaufende Schulung, um auch mit schwierigen Situationen umgehen zu können, die eventuell während der Betreuung auftauchen.

Forschung zu Pflegefamilien

Der Bundesverband der Diakonie wird demnächst für eine große Studie in NRW Pflegefamilien mit Flüchtlingen begleiten und erforschen, was es an besonderen Problemen bei der Betreuung gibt. Helga Siemens-Weibring von der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe erhofft sich davon auch neue Erkenntnisse zur Frage, wie Pflegeltern reagieren können, wenn bestimmte Auffälligkeiten bei jungen Flüchtlinge auftreten, die auf ein Sicherheitsriko für die Gesellschaft hinweisen.

Professor Klaus Wolf lehrt Erziehungswissenschaften an der Universität Siegen und forscht über Kinder, die unter ungünstigen Bedingungen aufwachsen. Er sagt klar, dass eine Verantwortung nicht nur bei den Jugendämtern liegen könne. Es bedürfe einer ganz starken Unterstützung der Pflegefamilien durch ein enges und großes Netz von Erziehungsberatungsstellen, Therapeuten, Psychologen, Traumatologen und Psychiatern.