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KonflikteUkraine

Petraeus: "Gute Chancen" für Gegenoffensive der Ukraine

16. September 2023

Ukrainische Truppen schlagen sich sehr gut gegenüber der massiven russischen Militärmacht, sagt der ehemalige US-General David Petraeus im Gespräch mit der DW. Denn sie haben sich an die Herausforderung angepasst.

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David Petraeus sitzt an einem Konferenztisch, hält ein Mikrofon in der Hand und gestikluliert
Ehemaliger CIA-Direktor und Ex-General: David Petraeus beim Kiewer Sicherheitsforum Anfang September 2023Bild: Efrem Lukatsky/AP/picture alliance

Die ukrainischen Streitkräfte konnten seit Beginn der Gegenoffensive im Juni zunächst nur bescheidene Fortschritte gegen die russischen Truppen erzielen. In den vergangenen Wochen vermeldete Kiew jedoch den Durchbruch der ersten feindlichen Verteidigungslinie und die Befreiung des Dorfes Robotyne östlich des Flusses Dnipro. Der pensionierte US-amerikanische General und frühere CIA-Chef David Petraeus befehligte einst die Truppen der USA und ihrer Verbündeten im Irak und in Afghanistan. Im DW-Gespräch bewertet er die Strategie, die Fortschritte und die Aussichten der ukrainischen Streitkräfte.

DW: General Petraeus, teilen Sie die Einschätzung, dass die Ukraine mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent die zweite und dritte Verteidigungslinie der Russen bis Ende des Jahres durchbrechen wird?

Ich denke, die Chancen stehen ziemlich gut, aber lassen Sie mich erklären, was in den ersten drei Monaten der Gegenoffensive geschehen ist.

Was wir hier feststellen konnten, ist etwas, das sich immer bewahrheitet und das ich während meiner Laufbahn als Kommandeur in zwei verschiedenen Kriegen selbst immer wieder erfahren habe: Kein Plan überlebt den Kontakt mit dem Feind. Die Frage ist also, wie gut sich die Streitkräfte anpassen. Wie gut reagieren sie, wenn der Plan geändert werden muss. Meiner Meinung nach haben sich die Ukrainer hier sehr gut geschlagen.

Sie haben ihr Vorgehen angepasst, als sie feststellen mussten, wie riesig die russischen Minenfelder wirklich sind. Sie sind um vieles größer, als es die russischen Handbücher lehrbuchmäßig vorsehen - wir sprechen hier von vielen Kilometern Länge. Und die Ukrainer mussten sich ihren Weg durch diese Felder bahnen, weil sie nicht über die Luftmacht, über die gepanzerten Fahrzeuge und so weiter für so einen Durchbruch verfügen, die wir (die USA) bei einer so beeindruckenden Verteidigungslinie einsetzen würden.

Die ukrainische Gegenoffensive hatte es also sehr, sehr schwer. Daher mussten sich die Ukrainer anpassen. Und jetzt beginnen sie, Land zu gewinnen, insbesondere in der zentralen Region Saporischschja um Robotyne. Ich glaube, die Chancen stehen gut, dass sie diese Fortschritte ausweiten können.

Teilerfolg der Ukraine bei Gegenoffensive

Sie haben es durch den ersten Verteidigungsgürtel geschafft, sie arbeiten sich in den zweiten Verteidigungsgürtel vor. Dabei muss man bedenken, dass jeder dieser Gürtel aus Panzergräben, außerordentlich großen Minenfeldern, anderen Hindernissen, Höckerlinien, Schützengräben voller russischer Soldaten und so weiter besteht. Dazu kommt, dass Drohnen identifizieren, wo sich die ukrainischen Soldaten befinden, und diese dann von der Artillerie und mit Raketen beschossen werden.

Die Herausforderung ist also immens. Sie übersteigt alles, was ich gesehen habe, alles seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Herausforderung ist sicherlich größer als alles, was ich in den beiden Kriegen gesehen habe, bei denen ich das Oberkommando führen durfte.

Die Frage, die ich mir stelle, ist, wann zeigen sich bei den Russen die ersten Risse? Wann beginnt diese Verteidigung zu bröckeln? Und können die Ukrainer diese Chance dann nutzen, um zumindest soweit vorzurücken, dass sie diese extrem wichtige Verbindungslinie erreichen, die sich von Russland entlang der Südostküste der Ukraine zieht?

Wenn sie die unterbrechen können und die logistischen Fähigkeiten der Russen, ihre Truppen im Zentrum der südlichen Ukraine zu versorgen, stören oder gar schwächen können, wäre das eine beträchtliche Leistung.

Es heißt, die ukrainische Gegenoffensive nähme nun langsam Fahrt auf und der Durchbruch bei Robotyne würde vergrößert, es gab in jüngster Zeit also einige Erfolge. Was hat diese Erfolge möglich gemacht?

Möglich wurden sie, weil die Ukraine sich angepasst hat. Sie gehen im Grunde in Teams von zehn Mann vor, mit kleinen Infanteriegruppen und -zügen, die sich von Baumgrenze zu Baumgrenze vorkämpfen, sich ihren Weg durch die Minenfelder picken, Wege durch diese freiräumen und dann das verteidigen, was sie eingenommen haben. Einen Tag später oder so folgt dann die nächste Baumgrenze, das nächste Haus.

Das machen sie in einem enormen Umfang, mit enormem Mut, und mit viel Erfindungsgeist beim Einsatz der Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung stehen, einschließlich der Drohnen und der Langstreckenwaffen. Das hat dazu geführt, dass sie zunehmend Fortschritte machen.

Auch Russland passt sich an und lernt aus seinen Fehlern. Es produziert jetzt mehr Waffen, mehr Raketen, Flugkörper und Drohnen als zuvor. Wer ist technisch derzeit besser aufgestellt, Russland oder die Ukraine?

Auf beiden Seiten gab es beeindruckende Innovationen. Wir sehen auf der ukrainischen Seite, dass sie den Krieg mit mutmaßlich ukrainischen Waffensystemen nach Moskau und in andere Regionen in der Russischen Föderation bringt.

Russland verfügt jedoch über eine Wirtschaft, die um ein Vielfaches größer ist als die ukrainische, und das trotz der Ausfuhrkontrollen und der Sanktionen, die sich gegen das Finanzsystem, die Wirtschaft und Einzelpersonen richten. Natürlich ist auch die Bevölkerung drei- oder viermal so groß wie die der Ukraine. Das unterstreicht, wie wichtig es ist, dass die NATO-Länder - die USA, Deutschland und alle anderen - alles an Unterstützung leisten, was möglich ist. Das gilt zum einen kurzfristig, um sicherzustellen, dass die Ukraine alles hat, was sie braucht, um die Offensive fortzusetzen. Die kann noch mehrere Monate andauern, bis sie durch den beginnenden Regen verlangsamt wird und die Fahrzeuge nicht mehr querfeldein fahren können. Wir müssen aber auch weiter denken und die Ukraine in die Lage versetzen, den Kampf im kommenden Jahr wiederaufzunehmen und weitere Gebiete zu befreien. Und wir dürfen nicht vergessen, dass auch Russland gelernt hat, sich anzupassen.

Ukrainische Drohnenangriffe auf die annektierte Krim

Das merkt man an der Verteidigung, die (Russland) im Süden der Ukraine aufgebaut hat. Das merkt man an der verbesserten elektronischen Kampfführung, an den Drohnen, die zur Aufklärung für Artillerie und Raketen und für viele andere Zwecke eingesetzt werden. Das ist offensichtlich schwierig, insbesondere, da sich die Russen während des ersten Jahres auf dem Schlachtfeld, gelinde gesagt, nicht besonders hervorgetan haben.

Sie sprechen über das kommende Jahr. Welche Veränderungen erwarten Sie in diesem Krieg bis zum nächsten Jahr, bis zum Frühling nächsten Jahres?

Die erste Veränderung wird in dem liegen, was die Ukraine während dieser Gegenoffensive erreicht. Versetzt es sie zum Beispiel in die Lage, den Nachrichtenweg, der Russland über die Südostukraine mit seinen Streitkräften nördlich der Krim verbindet, zu unterbrechen? Kann es die Routen stören und schwächen, die von der Krim über Straßen und Brücken in die südliche Ukraine verlaufen? Können sie die Krim weiter isolieren? Können sie weitere Marine- und Luftwaffenstützpunkte zerstören? In diesem Jahr wird noch eine Menge passieren.

Ich möchte jedoch betonen, dass wir uns darauf vorbereiten müssen, die Ukraine langfristig zu unterstützen. Darauf sollte die NATO ihren Fokus legen.

Das Interview führte DW-Korrespondentin Anna Pshemyska in Kiew. Es wurde für bessere Lesbarkeit gekürzt und bearbeitet.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.