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Permanenter Geheimtipp

Michael Brückner22. September 2002

Ohne großen Pomp, aber mit liebevollen Ehrbezeugungen wurde der 90. Geburtstag des großen deutschen Dirigenten Kurt Sanderling gefeiert. Allein sein Lebensweg macht ihn schon legendär.

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Musikalische Höchstleistung:<br>Kurt Sanderling bei einer ProbeBild: dpa

"Der letzte Überlebende von 1912", raunen ehrfurchtsvoll die Kritiker, wenn von Kurt Sanderling die Rede ist. Im selben Jahr wie Sanderling kamen gleich noch fünf andere der bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts auf die Welt. Georg Solti, Igor Markewitch, Erich Leinsdorf, Sergiu Celibidache und Günther Wand verleihen zusammen mit Kurt Sanderling dem Jahrgang 1912 in musikalischer Hinsicht etwas magisches.

Flucht vor den Nazis



Musikalisch und auch politisch hat er fast alle Verwicklungen und Brüche des vergangenen Jahrhunderts in Europa erlebt. Im ostpreußischen Arys, einer Stadt mit 3000 Einwohnern und nur einem Dutzend Klavieren, wie er einmal sagte, wuchs Kurt Sanderling als Sohn eines jüdischen Kaufmanns auf. Nach ersten Musikstudien in Königsberg kam er Ende der 1920er Jahre nach Berlin, wo er schon mit 19 Jahren Korepetitor an der Städtischen Oper (heute Deutsche Oper Berlin) wurde.

1936 floh er in die Sowjetunion, nicht aus politischer Überzeugung, wie er heute sagt, sondern weil er schlichtweg für kein anderes Land ein Visum bekommen hatte. Für seinen musikalischen Werdegang war das sicherlich ein Glück. Nach nur 14 Tagen erhielt er eine Stelle beim Moskauer Rundfunk und ab 1941 war er Dirigent der Leningrader Philharmoniker. So leitete ein jüdischer Deutscher das bedeutendste Orchester der Sowjetunion, während die deutsche Armee die russische Kulturhauptstadt belagerte und aushungern wollte.

Evakuierung nach Sibirien

Zusammen mit den Philharmonikern wurde Sanderling nach Sibirien evakuiert. In Nowosibirsk freundete er sich mit Dmitri Schostakowitsch an, dessen Musik er später in Deutschland durchsetzte. Sanderlings Einspielungen aller Schostakowitsch-Sinfonien mit dem Berliner-Sinfonie-Orchester (BSO) gelten immer noch als Reverenzaufnahmen dieses größten sinfonischen Werkes aus dem 20. Jahrhundert.

Auf 19 Jahre Leningrader Philharmoniker folgten nun 17 Jahre Berliner-Sinfonie-Orchester. Zwischen 1960 und 1977 machte er aus diesem Ost-Berliner Stadtorchester ein auch auf internationalen Gastspielen gefeiertes Spitzenensemble. David Oistrach oder Emil Gilels gastierten, Dmitri Schostakowitsch kam zu Besuch nach Berlin.

Karrierestart im Rentenalter

Kurt Sanderling
Kurt Sanderling

Erst 1977, mit 65 Jahren begann er eine Weltkarriere. Eher als permanenter Geheimtipp, denn medienwirksam berühmt wurde er nie. In Ostdeutschland ist er allerdings eine Institution geblieben.

In London ist er seit langem Ehrendirigent des Philharmonia Orchestra. Der neue Leiter der Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle, der ganz im Gegensatz zu Sanderling auch außerhalb der Klassik-Szene bekannt ist, fuhr schon vor 20 Jahren regelmäßig nach London, wenn Sanderling dort arbeitete.

So hat bezeichnenderweise der Brite Sir Simon Rattle dem großen (ost-)deutsch-sowjetischen Dirigenten in der (West-) Berliner Philharmonie eine Geburtstagsfeier ausgerichtet.