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Oya Baydar: Das Judasbaumtor

Martin Muno30. Dezember 2011

Vor dem Hintergrund der mystischen Stadt Istanbul kreuzen sich die Lebenswege vier unterschiedlicher Menschen. Oya Baydar erzählt eine bewegende Geschichte über verdrängte Schuld und die Suche nach sich selbst.

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Vier Personen kreisen umeinander, beäugen sich misstrauisch, lieben sich, verlieren sich wieder. Vier Personen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Kunsthistoriker Teo Zakharakis ist zwar in Istanbul geboren, lebt aber seit Jahrzehnten in den USA. Es ist die Suche nach einem verschütteten Tor einer byzantinischen Stadtmauer, eben jenem Judasbaumtor, das ihn Anfang der 1990er Jahre wieder in seine Geburtsstadt reisen lässt. Teo musste Istanbul als Kind fluchtartig verlassen, weil seine Familie antigriechischen Pogromen ausgesetzt war. Heimatlos und beziehungsgeschädigt, nachdem er als Kind seine Mutter beim Fremdgehen ertappte, sucht er mit dem mysteriösen Tor nicht nur den wissenschaftlichen Erfolg, sondern auch einen Ort, den er als seinen eigenen bezeichnen kann.

Das Judasbaumtor (Buch)
Bild: Ullstein Hardcover

Die 23-jährige Derin entstammt einem großbürgerlichen Elternhaus und verliebt sich in den linksradikalen Aktivisten Kerem Ali, der in einem Armenviertel Istanbuls lebt. Beide trauern um ermordete Angehörige. Derins Vater, der eng mit der rechtsgerichteten Militärregierung zusammengearbeitet hatte, wurde unter mysteriösen Umständen ermordet. Und Kerem Ali radikalisierte sich erst, nachdem sein Bruder von der Polizei erschossen wurde.

Vier Personen - eine Stadt

Die Journalistin Ülku schließlich versucht, die Knoten ihrer Biographie zu ordnen. Denn sie hat ein Geheimnis. Ihr Sohn Umut, der ebenfalls bei einer Polizeirazzia erschossen wurde, ist nicht von ihrem damaligen Partner, sondern von ihrem Geliebten Arin - dem Vater Derins. Schon aus diesem Grund fühlt sie sich zu der jungen Frau hingezogen.

Neben den vier Protagonisten gibt es eine weitere Hauptfigur: Die Stadt Istanbul in all ihrer Widersprüchlichkeit. Überall in der Stadt ist der Atem der jahrtausende alten Geschichte zu spüren, wenn in großen Gärten mit Blick auf dem Bosporus die Judasbäume rosarot blühen gleicht die Stadt einem Paradies, doch für die Armen in den Elendsvierteln, die die Razzien der Polizei fürchten, kann die Stadt zur Hölle werden.

Das Private und das Politische

Oya Baydar erzählt eine moderne Tragödie. Ihre Protagonisten suchen nach ihrem persönlichen Glück und fragen sich immer wieder, wer sie eigentlich sind. Doch schaffen sie es nicht, sich von den politischen und gesellschaftlichen Zwängen zu befreien, die auf ihnen lasten. Teo spricht es aus "Jede Überzeugung schafft ihre eigenen Legenden, Märchen und Symbole, um sie anschließend anzubeten. Was sind wir schon anderes als unsere Legenden!"

Oya Baydar
Oya BaydarBild: Markus Wächter

Derin und Kerem Ali ergeht es wie Eve und Pierre in Sartres Klassiker "Das Spiel ist aus": Ihre Liebe hat in der aufgeheizten Situation keine Chance. Kerem Ali merkt, dass ihn sein Engagement im Untergrund in immer neue Abhängigkeiten bringt und dass sein Misstrauen wächst. Teo bleibt auch in seiner Geburtstadt ein Fremder. Und Umut? Sie erkennt von allen am ehesten, wie dringlich es ist, den Teufelskreis von Gewalt, Fanatismus und Misstrauen durch durchbrechen.

Oya Baydar weiß, wovon sie schreibt. Sie wurde als Gründungsmitglied der Türkischen Sozialistischen Arbeiterpartei nach dem Militärputsch 1980 inhaftiert. Sie musste ihre Heimat verlassen und lebte mehrere Jahre im Exil in Deutschland. Mit "Das Judasbaumtor" ist ihr ein großartiges Buch über die Versuche der Menschen gelungen, auch in Zeiten der Unterdrückung und sozialen Gegensätze ihre Menschlichkeit, Freiheit und Würde zu bewahren.


Oya Baydar
Das Judasbaumtor
Ullstein 2011
ISBN 97835500886
EUR 19,99