1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Wir befinden uns in einem Prozess der Desintegration"

Manuela Kasper-Claridge, z. Zt. am Comer See5. September 2016

Der ehemalige italienische Premierminister Enrico Letta trifft Manuela Kasper-Claridge beim Ambrosetti Forum, um über die italienische Wirtschaft und europäische Intergration zu sprechen.

https://p.dw.com/p/1Jvjb
Italien Machtkampf Regierung
Enrico Letta, früherer Ministerpräsident ItaliensBild: Reuters

Der Ausblick für die italienische Wirtschaft scheint gerade wenig vielversprechend. Wie ist Ihre Einschätzung?

Ich denke, es gibt viele Dinge, um die man sich gerade sorgen kann, nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch politische Instabilität und die Unsicherheiten im Zusammenhang mit dem Verfassungsreferendum, das wir im November in Italien haben werden. Darüber hinaus ist da noch die Flüchtlingskrise, die wieder starke Auswirkungen auf Italien hat, weil sich die Migration nach der Abriegelung der Balkanroute auf die Route über das zentrale Mittelmeer verschoben hat. Und dann sind da noch die großen Nachrichten über das Nullwachstum in Italien im zweiten Quartal. Insgesamt gibt es also viele Dinge über die man sich Sorgen machen kann, aber ich denke, Italien hat die Fähigkeiten und Stärken und Chancen sich davon zu erholen. Aber wir müssen härter daran arbeiten.

Aber wenn Sie sagen, wir müssen härter arbeiten, was sollte getan werden?

Ich denke, wir müssen an zwei Dingen arbeiten. Zum einen haben wir ein hohes Maß an Steuerhinterziehung. Aber wir haben auch hohe Steuern und ein hohes Steueraufkommen, das nötig ist, weil wir hohe öffentliche Ausgaben haben. Das sind die großen Probleme Italiens. Wir müssen sowohl die öffentlichen Ausgaben als auch die Steuern senken. Das sind große Herausforderungen, aber ich sehe keinen anderen Weg aus der Krise.

Sie erwähnten die Flüchtlingskrise, die starke Auswirkungen auf Italien hat. Gleichzeitig hat Europa gerade viele Probleme. Lässt Europa Italien mit seinen Problemen ein Stück weit alleine?

Wissen Sie, das Problem ist nicht, dass ein Land zur einen oder anderen Zeit alleine gelassen wird. Nehmen Sie Deutschland als Beispiel: Vor ein paar Monaten, als Deutschland hundertausende Flüchtlinge aufnahm und der Rest Europas nicht seinen Beitrag leistete, fühlten sich die Deutschen auch alleingelassen.

Das Problem ist ein grundsätzlicheres. Ich sehe bei der EU keinen klaren Ansatz für den Umgang mit dem Flüchtlingsproblem. Wir kümmern uns um ein Problem nach dem anderen, aber wir entwickeln keine Strategie. Wir müssen die nötigen Instrumente entwickeln, um mit der Flüchtlingskrise umzugehen, so wie wir es für die Eurokrise getan haben. Damals haben wir unsere Verträge geändert, den ESM geschaffen. So einen Ansatz brauchen wir auch für die Flüchtlingskrise. Wir müssen ein paar Änderungen an den Verträgen vornehmen, die Regeln für den Umgang mit Flüchtlingen harmonisieren, eine gemeinsame europäische Kostenwache und einen Grenzschutz schaffen. Solche Maßnahmen.

Schiffe am Comer See
Das Ambrosetti Forum: Nachdenken am Comer SeeBild: picture-alliance/Th. Muncke

Haben Sie den Eindruck, dass die europäische Idee nicht mehr so beliebt ist, wie sie es einmal war?

Absolut. Die Menschen sind weniger begeistert von Europa und die Konsequenz ist, dass die Politiker glauben, sie müssten ebenfalls weniger begeistert sein, um Stimmen zu bekommen. Und das bedeutet, dass es weniger europäische Integration geben wird. Wissen Sie, es gibt viele Bereiche, in denen es keine nationalen Antworten gibt. Probleme wie den Kampf gegen den Terrorismus oder den Umgang mit den Migrationsströmen. Das sind getrennte Themen, aber gemeinsam ist ihnen, dass wir für beide europäische Lösungen brauchen. Ohne europäische Antworten, haben wir keine schlagkräftigen Antworten, nur politischen Zwist. Und das ist der Grund dafür, dass populistische Parteien heute in den Umfragen so hoch im Kurs stehen. Es gibt keine klaren Lösungen für die Probleme der Menschen, und die Bürger reagieren darauf.

Nach den Wahlen in vor den Wahlen

Sind Sie besorgt wegen der anstehenden Wahlen in anderen europäischen Ländern wie Frankreich, wo die Ergebnisse noch schlechter sein könnten als in der Vergangenheit?

In Frankreich und Deutschland stehen nächstes Jahr Wahlen an, wahrscheinlich in Spanien auch. Wenn wir das Referendum in Italien noch dazu nehmen, liegen also 12 Monate vor uns, in denen die Politiker in den vier größten Ländern der Eurozone für ihre Politik geradestehen müssen.

Aber wenn wir weiterhin denken, dass wir bis nach den nationalen Wahlen warten müssen, bevor wir etwas tun, dann werden wir immer warten, und das können wir uns einfach nicht leisten, denn, ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass die europäischen Probleme 12 Monate warten können. Wir befinden uns jetzt schon in einem Prozess der Desintegration. Wenn wir also bis nach dem italienischen Referendum, den Wahlen in Spanien, in Frankreich und in Deutschland im September 2017 warten, dann befürchte ich, dass es im September 2017 kein Europa mehr geben wird.

Italien May und Renzi in Rom
Brexit als Chance für Europa?Bild: Reuters/R. Casilli

Premierminister Renzi erwähnte, dass der Brexit auch eine Chance für Europa und die Volkswirtschaften in Europa sein könnte. Sehen Sie das auch so?

Ich denke, er sagte zu Recht, dass wir alle gegen den Brexit waren. Aber wie Theresa May sagte: Brexit heißt Brexit. Das Vereinigte Königreich kann also nicht an Bord bleiben, und wir müssen die Beziehung zwischen der EU und Großbritannien neu verhandeln. Das Ganze ist insofern eine Chance, als wir die EU dadurch mit 27 Mitgliedern und insbesondere den 19 Mitgliedern der Eurozone neu durchdenken und relaunchen können. Auf Lateinisch sagt man: "ex malo bonum." Der Brexit ist etwas sehr Schlechtes aber jetzt müssen wir diese Chance für einen Relaunch nutzen.

Enrico Letta war von 2013 bis 14 Premierminister von Italien und ist jetzt Dekan der Paris School of International Affairs (PSIA), Sciences Po in Paris.