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"Ohne Druck aus Europa wäre die Lage in der Türkei schlechter"

10. März 2005

Ein brutaler Polizeieinsatz gegen Demonstranten in Istanbul hat eine neue Debatte um den EU-Beitritt der Türkei entfacht. EU-Ratspräsident Jean Asselborn spricht im DW-Interview über Menschenrechte und die Zypern-Frage.

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Mit dem Schlagstock gegen Meinungsfreiheit?Bild: AP

DW-WORLD: Sie haben mit EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn und dem britischen Europaminister Denis MacShane die Türkei besucht und Außenminister Abdullah Gül getroffen - was sind denn die Ergebnisse?

Jean Asselborn: Ich glaube, man muss zuerst anfangen, mit den Eindrücken, die man hat, wenn man als Außenminister, als Vertreter der Union in die Türkei kommt. Erst spricht man Sonntagabend mit dem Außenminister und ist sich einig, dass der Reformprozess nicht stehen bleiben darf, dass die Zypern-Frage sehr wichtig ist - also alles ist positiv. Dann bin ich am folgenden Tag, am Montagmorgen, aufgestanden und habe diese Bilder gesehen in Istanbul. Das war für mich wirklich nicht eine Türkei des 21. Jahrhunderts, sondern eine Türkei, wo so viel Brutalität zusammenkam. Wo junge Menschen, vor allem Frauen, die friedlich demonstriert haben, als sie schon am Boden lagen, mit Knüppeln geschlagen wurden. Mit den Füßen wurde auf sie getreten. Deswegen waren wir uns einig, Rehn und auch MacShane, dass wir stark protestieren würden. Vor der Sitzung habe ich eine Viertelstunde unter vier Augen mit Außenminister Gül geredet. Er hat eingesehen, dass diese Demonstrationsniederschlagung, diese Brutalität, nicht mit dem Bild einer toleranten Türkei übereinstimmt. Er hat uns zugesagt, dass alles getan wird, um die Schuldigen zu ermitteln, und dass dies nicht wieder vorkommt.

War das also eine Ausnahme, oder hat die Türkei tatsächlich Rückschritte in Sachen Menschenrechte gemacht?

Die Türkei hat in den letzten drei Jahren sehr, sehr viele Fortschritte in Sachen Menschenrechte gemacht. Dieser Sonntag hat aber bewiesen, dass es nicht genügt, in einem Land wie der Türkei, das in einer Übergangsphase ist, Gesetze zu verabschieden gegen die Folter, für die Menschenrechte, für die Religionsfreiheit und so weiter.
Ohne den Druck aus Europa wären die Menschenrechtslage in der Türkei sehr viel schlimmer. Und nur wir bringen es fertig, sie darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht genügt, ökonomisch und politisch stärker zu werden. Sondern die Basis der Demokratie müssen die Menschenrechte bleiben. Das ist noch ein weiter Weg.

In der Diskussion ist immer noch die Zypern-Frage - wird die Türkei jetzt den griechischen Teil der Insel anerkennen?

In dieser Frage muss man, glaube ich, schrittweise vorgehen, um etwas zu erreichen. Jetzt ist als positiver Punkt festzuhalten, dass die Türkei bereit ist, in einigen Wochen die Verhandlungen mit der EU-Kommission abzuschließen und das Zusatzprotokoll über die Zollfragen zu unterschreiben. Das wäre ein erster Schritt. Natürlich wird die Türkei dann sagen: 'Damit haben wir Zypern nicht anerkannt.' Es kommt dabei aber sehr genau auf den Tonfall an.

Die Zypern-Frage ist auch in der Verantwortung Griechenlands und Zyperns. Und hier glaube ich, dass die Zyprer auf ihrer Seite Anstrengungen unternehmen. Dann wäre die EU bereit, dem Norden Zyperns 259 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Außerdem müsste der Norden Zyperns die Möglichkeit haben, direkt Handel zu treiben mit EU-Ländern. Dann wären wir von einer Lösung zwar noch weit entfernt, aber es wären Schritte in die richtige Richtung. Und wir werden während unserer werden während unserer Präsidentschaft, also bis Ende Juni, versuchen, diese Fragen positiv anzugehen.

Das Interview führte Rafael Heiling
DW-WORLD, 8.3.2005, Fokus Ost-Südost