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NS-Zeit - die Rolle des Hochadels

Alexander Drechsel
25. November 2016

Die Rolle des europäischen Hochadels in der NS-Zeit ist nur lückenhaft erforscht. Denn bislang waren die Familienarchive verschlossen. Die Welfen haben damit nun gebrochen und vielleicht eine Lawine in Gang gesetzt.

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Marienburg
Bild: picture-alliance/nordphoto

Es gibt wohl kaum eine Zeit in der deutschen Geschichte, die von Historikern aus aller Welt so intensiv untersucht worden ist, wie die Jahre zwischen 1933 und 1945. Und dennoch stellt sich die Frage, ob wir das gesamte Bild kennen. Denn die Rolle des Adels im Nazi-Regime ist zwiespältig.

Schlechte Adelige, gute Adelige

Einerseits waren viele Offiziere im deutschen Militär adelig und beteiligten sich auch an Kriegsverbrechen. Ebenso arbeiteten im diplomatischen Dienst zahlreiche Adelige. Sie trugen dazu bei, dass Adolf Hitler (1889 bis 1945) vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (1939) seinen Machtbereich in Europa ohne Militär ausweiten konnte.

Claus Graf Schenk von Stauffenberg mit seinen Kindern
Claus Graf Schenk von Stauffenberg mit seinen KindernBild: AP

Andererseits steht da Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der am 14. Juli 1944 Hitler mit einer Bombe töten und in einem Staatsstreich die Macht in Deutschland übernehmen wollte. Stauffenberg und einige Unterstützer gelten vielen als Beweis dafür, dass der Adel Widerstand in der NS-Zeit leistete.

Welches Bild stimmt?

Es habe bislang kaum Forschung gegeben, inwieweit der Adel Europas Hitler geholfen habe, sagte die Historikerin Karina Urbach dem deutschen Radiosender SWR. "Das hat wahrscheinlich niemand vorher untersucht, weil es Quellenprobleme gab. Die Archive sind fest verschlossen." Umso bemerkenswerter ist es, dass sich nun eines dieser Archive geöffnet hat. Ernst August von Hannover, dessen Familie der Welfen zum Hochadel zählt, ist diesen Schritt gegangen. Der Ururenkel des letzten deutschen Kaisers hat der Forschung Akten aus der Zeit von etwa 1910 bis in die 1980er Jahre hinein zur Verfügung gestellt.

"Es ist ein Novum und zugleich Glücksfall", so die Historikerin Cornelia Rauh von der Universität Hannover im Gespräch mit der DW. "In Zukunft wird es möglich, den Bestand als Grundlage zur weitgehend unerforschten Geschichte des Hochadels im 20. Jahrhundert unter den verschiedensten Fragen auszuwerten." Rauh erforscht seit etwa zwei Jahren die rund 3200 prallgefüllten Akten.

Auch das Bild der Welfen ist zwiespältig

Cornelia Rauh: Die Rolle des europäischen Hochadels in Nazi-Zeit
Cornelia Rauh freut sich über die Öffnung des WelfenarchivsBild: Cornelia Rauh

Rauh und ihr Team haben bereits einiges herausgefunden: Der Urgroßvater von Ernst August von Hannover war nicht Mitglied in Hitlers Partei oder in einer anderen Nazi-Organisation. Seine drei Söhne waren zwar Offiziere in der Wehrmacht, wurden aber 1943 aufgrund ihrer Herkunft aus dem Militär entlassen.

Der damalige Herzog Ernst August (1887 bis 1953) profitierte dennoch von der NS-Zeit. "Er ergriff die vermeintlichen Chancen, die die nationalsozialistische Wehrwirtschaft bot. Er schreckte mit seinen Investitionen weder davor zurück, sich am Bereicherungsfeldzug zu Lasten jüdischer Unternehmer zu beteiligen, noch in die Rüstung zu investieren und später Zwangsarbeiter zu beschäftigen", resümierte Rauh. 

Zwangsarbeit im Auftrag der Welfen

Die Welfen hatten 1938 unter normalen Geschäftsbedingungen ein Unternehmen zur Herstellung von Landwirtschaftsmaschinen gekauft. Schon bald stellten Ernst August und sein Sohn (1914 bis 1987) die Produktion auf Rüstung um. Das Unternehmen war einer der "kriegswichtigen" Rüstungsbetriebe des "Dritten Reiches" und an der Geheimproduktion des ersten Kampfflugzeugs mit Düsenantrieb beteiligt. Für diese und andere Rüstungsproduktionen der Welfen wurden  Zwangsarbeiter eingesetzt.

Mindestens neun Mal erwarb der damalige Herzog zudem - zu Spottpreisen - Aktien oder Unternehmen, die zuvor in jüdischem Besitz gewesen waren. Bislang waren drei dieser sogenannten Arisierungen durch das damalige Oberhaupt der Welfen bekannt gewesen. 

Archivöffnung nach Medienbericht

Über "Arisierung" und Zwangsarbeit hatte der Norddeutsche Rundfunk berichtet. Daraufhin hatte Urenkel Ernst August von Hannover beschlossen, die Familiengeschichte aufarbeiten zu lassen.

Ausstellung Der Weg zur Krone
Ernst August Erbprinz von Hannover eröffnete 2014 die Auststellung"Der Weg zur Krone" auf Schloss MarienburgBild: picture-alliance/dpa

"Meines Erachtens muss sich jede Familie - insbesondere diejenigen, die in dieser Zeit Unternehmen geführt haben oder Teil des öffentlichen Lebens waren - ihrer NS-Geschichte stellen", sagte der 33-Jährige der Nachrichtenagentur dpa. "Auch deshalb war es mir ein persönliches Anliegen, hier eine umfassende und professionelle Aufarbeitung zu ermöglichen." Es gehe ihm dabei vor allem um Glaubwürdigkeit und Transparenz.

Die Geschäfte des Urgroßvaters waren nach Einschätzung der Historikerin Rauh eine Ausnahme. Ernst August habe sich in der NS-Zeit im Finanzsektor und in der Industrie engagiert und damit nicht den Verhaltensstandards des Hochadels entsprochen. Zudem habe er sich an der Ausbeutung der Juden und am Einsatz von Zwangsarbeitern beteiligt.

Hochadel im Dienst der Nazis

"Wie viele andere Hochadelige - aus welchen Motiven - ähnliche Verstrickungen aufwiesen, kann nur künftige Forschung klären", so Historikerin Cornelia Rauh. Bislang seien nur Einzelfälle bekannt geworden, wie etwa die Übernahme einer "arisierten" Schwarzwälder Papierfabrik durch Max Egon Fürst zu Fürstenberg oder einer Berliner Immobilie durch Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe.

Fest steht, dass andere Vertreter des deutschen Hochadels sehr tief in den Nationalsozialismus verstrickt waren. Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha (1884 bis 1954) etwa, der unmittelbar nach der Wahl Hitlers in die Nazi-Partei eintrat und repräsentative Posten im NS-Staat übernahm. Er war - ebenso wie die Welfen - direkt mit dem englischen Königshaus verwandt.

Ernst August von Braunschweig mit Erbprinz  (1914)
Ernst August von Braunschweigs damaligen Geschäfte kommen ans TageslichtBild: picture-alliance/akg-images

Ein anderes Beispiel ist Stephanie zu Hohenlohe (1891 bis 1972): "Spionin Hitlers" bezeichnete sie die Historikerin und Bestsellerautorin Martha Schad in ihrem gleichnamigen Buch. Die Prinzessin nutzte auch das quer durch Europa gespannte Netzwerk des Hochadels, um für die Nationalsozialisten zu werben und Informationen zu beschaffen.

Historikerin Karina Urbach beschreibt in ihrem Buch "Hitlers heimliche Helfer", wie Max zu Hohenlohe (1897 bis 1968) in der Sudetenkrise von 1938 und danach seinen Titel und seine Verwandtschaftsbeziehungen nutzte, um persönliche Vorteile zu erlangen. Urbach nennt den Hochadel ein über Jahrhunderte gewachsenes organisches Netzwerk in ganz Europa. Hitlers Regime habe einige dieser Verbindungen genutzt, um jenseits der offiziellen Diplomatie Einfluss auf andere europäische Regierungen zu nehmen.

Warnung vor "Geschichtsmanipulation"

Für die deutsche Historikerin, die derzeit in Princeton arbeitet, steht fest, dass nicht nur die Forschung zur Rolle des deutschen Hochadels in der NS-Zeit lückenhaft ist. Insbesondere die königlichen Aktenbestände in Großbritannien, Schweden und Spanien seien verschlossen. "Die Archive wollen die positive Vergangenheit präsentieren. Dazu werden die Quellen immer freigegeben. Aber wenn es pikanter wird und es um brisantes Material geht, gehen plötzlich alle Vorhänge zu." Es sei eine "Art Geschichtsmanipulation", wenn die Archive nicht frei zugänglich sind, urteilte Urbach.

Systematische Forschungen zum Thema fehlen, beklagt auch die Hannoveraner Wissenschaftlerin Rauh. Der Zugang zu den Adelsarchiven sei bis heute meist versperrt. "Die Öffnung des Welfen-Archivs ist also durchaus ein wegweisender Schritt, von dem man hoffen darf, dass er weitere Nachahmer finden wird."