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Notlage Zeugnis

15. Juli 2010

Für Millionen Schüler heißt es in diesen Tagen: auf in die Sommerferien! Doch vorher kommt für alle das Zeugnis. Für manche eine böse Überraschung. Psychologen an Telefon-Hotlines bieten ihnen deshalb Rat und Hilfe an.

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Frau hält in Berlin einen Telefonhörer (Foto: AP)
Bundesweit gibt es zahlreiche Anbieter von ZeugnistelefonenBild: AP

50 Anrufe täglich bekommt Christiane Federlin, wenn es Zeugnisse gibt. Für den schulpsychologischen Dienst der Stadt Köln betreut die Diplom-Psychologin regelmäßig vor den Sommerferien das Zeugnistelefon. Ob wütende Schüler, die sich von ihren Lehrern ungerecht bewertet fühlen, oder ratlose Eltern: jedes Mal versucht die erfahrene Spezialistin zu helfen. So auch, als sich ein Mädchen an sie wandte, weil ihre beste Freundin plötzlich die Schule schwänzte. Hier gelang es Federlin, die Schulverweigerin wieder in das Gespräch mit ihren Eltern zu bringen. Die Beratung ist ausdrücklich darauf ausgelegt, die Familie und ihr System im Blick zu haben. Und ohne die Eltern geht gar nichts.

Die Psychologin Christiane Federlin (Foto: DW)
Christiane Federlin: Schüler danken ihr mit selber gemalten BildernBild: DW

Gerade sie scheinen sich häufig mehr Sorgen um die Schulkarriere ihrer Kinder zu machen als ihre Kinder. Die Hauptkundschaft am Zeugnistelefon der der Diplom-Psychologin Maria Buchholz-Engels vom Zeugnistelefon des ländlichen Rhein-Sieg-Kreises bei Bonn sind Erwachsene. Zum Beispiel die Mutter, deren Sohn das Abitur knapp nicht schaffte. Für ihn kein großes Problem, er hatte sich schon einen anderen Weg überlegt. Für sie eine Katastrophe.

In ganz Deutschland haben diverse private Anbieter wie die bundesweit kostenlose "Nummer gegen Kummer" und die schulpsychologischen Dienste der Städte und Kommunen Zeugnistelefone eingerichtet, die Rat und Hilfe anbieten. Ein dichtes Netz, wie es scheint. Fast jede Gemeinde bietet eines an.

"Schulpsychologisches Entwicklungsland"

Schüler bei der Zeugnisausgabe (Foto: DW)
Torben, Johannes und Marian haben ihre Zeugnisse bekommenBild: DW

Gymnasiast Torben vom Anno- Gymnasium in Siegburg hat sein Abitur noch vor sich. Seine großen Stärken sind die Naturwissenschaften und Philosophie. Seine Schwächen in Deutsch, Englisch und Musik gibt er offen zu. Ein Zeugnistelefon würde er dennoch auf keinen Fall anrufen. Man müsse sich einfach seinen Eltern stellen, findet er. "Und ich denke kaum, dass die Konsequenzen so groß sein werden, dass man wirklich Angst haben müsste."

Schule als Thema, das innerhalb der Familie geklärt wird. Offenbar eine gängige Meinung in Deutschland. Und vielleicht auch der Grund, warum der Personalbestand schulpsychologischer Dienste in Deutschland im internationalen Vergleich weit hinterher hinkt. Fallen statistisch gesehen beispielsweise in den USA auf einen Schulpsychologen ungefähr 1.000 Schüler, sind es in Deutschland mehr als 10.000. Dabei sind die Länder mit dem höchsten Aufkommen an Schulpsychologen nachweislich auch die bestplatzierten in den internationalen PISA-Bildungsstudien. Eine aktuelle Studie von Wissenschaftlern der Universität Bielefeld nennt Deutschland sogar ein "schulpsychologisches Entwicklungsland".

Schon vor der Krise nach Hilfe suchen

Inzwischen reagiert Deutschland auf die Studien, die Vorzüge einer ausreichenden Versorgung mit schulpsychologischen Dienstleistungen belegen. Vielerorts werden die Personalbestände der schulpsychologischen Dienste aufgestockt. Die Schulen selber bemühen sich bereits im laufenden Schuljahr, die Eltern von leistungsschwachen Schülern schriftlich in so genannten "Blauen Briefen" über die Situation ihrer Kinder zu informieren, um böse Überraschungen zum Schuljahresende zu vermeiden.

Die Psychologin Maria Buchholz (Foto: DW)
Maria Buchholz-Engels berät Eltern und SchülerBild: DW

Manchmal kommt es beim Zeugnis aber immer noch zur Krise. Zum Beispiel, weil ein Schüler nicht versetzt wird – ein Schicksal, das in Deutschland etwa 250.000 Schüler jährlich trifft. Dann sind nach wie vor die Zeugnistelefone gefragt. In den Tagen der Zeugnisausgabe werden sogar Sonder-Bereitschaftsdienste eingerichtet, die sicherstellen, dass jeder Anruf bei den Zeugnistelefonen auch angenommen werden kann.

Gibt es trotzdem einen Stau, sichert Diplom-Psychologin Maria Buchholz-Engels einen Rückruf innerhalb weniger Minuten zu. Ein Service, der Kraft kostet, aber Erfolg bringt. Man habe schon vielen Schülern und Eltern helfen können, bilanziert sie stolz. "Über das ganze Schuljahr hinweg." Trotzdem wünscht sie sich, die Eltern würden sich insgesamt früher melden. Nicht erst dann, wenn die Krise schon komplett ist.

Autorin: Catrin Möderler

Redaktion: Michael Borgers