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Notizen eines Fußballreporters

Ludger Schadomsky3. November 2004

Drei Tage lang weilte DW-Reporter Ludger Schadomsky beim Straßenfußball-Projekt in Lagos. Er erlebte nicht nur etliche spannende und bisweilen ungewöhnliche Situationen sondern traf auch auf viele herzliche Menschen.

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Fairplay bei den Kids: Kollektives Händereichen vor jedem Spiel

"Ich hole Dich morgen früh um 8 Uhr ab", hatte Yomi Kuku am Vorabend angekündigt. Dann steht der - junge - Kopf hinter dem Projekt Search and Groom aber doch schon um 7.30 Uhr auf der Matte. "Wir wissen doch, dass Ihr Deutschen auf Pünktlichkeit steht", grinst der 32-Jährige. Ein kritischer Blick auf mein Trikot mit der Nummer 5 und der Aufschrift: "Libero". "Ich dachte, Du seiest Torwart"?. In dem Auto eines Freundes - über ein eigenes Fahrzeug verfügt Search and Groom noch nicht – geht es im dichten Morgenverkehr der 15 Millionen Metropole nach Ajegunle, eines der ärmsten Viertel Lagos.

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Armutsviertel AjegunleBild: Ludger Schadomsky

Auf den letzten Kilometern, draußen Hafen, passieren wir die riesigen Tanks der Ölmultis - Total, Chevron etc. 2,2, Millionen Barrel Öl fördert Nigeria jeden Tag. Weil die eigenen Raffinerien mutwillig heruntergewirtschaftet wurden, lässt Nigeria sein hochwertiges crude oil im Ausland raffinieren und importiert es dann zurück – ein Milliardengeschäft für einige wenige Geschäftsleute. Die Bewohner von Ajegunle sehen von dem schwarzen Gold dagegen wenig.

Barfuß auf Asphalt

Tagebuch Streetfootball
Der Regen trommelt

Wer einen festen Arbeitsplatz hat, der steht jetzt um 08.30 Uhr an der Bushaltestelle und kämpft um einen Platz in den gelben, klapprigen Minibussen, die jeden Tag einen Bleimantel über die Stadt legen. Die Wracks sind aus Europa importiert, "Schreinerei Hagedorn", steht auf einem. Wer keinen Job hat - und das sind in Nigeria die meisten -, der hat seinen kleinen Marktstand aufgebaut, verkauft Obst, Gemüse, Fleisch. Junge Männer verdingen sich als fliegende Händler an den Ampelkreuzungen. Von Kleiderbügeln über schwarzgebrannte CDs bis zu Handykarten reicht ihr Angebot.

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Letzte Anweisungen unmittelbar vor dem Spiel

Während der Fahrt sind die Wolken über der Stadt immer dunkler geworden, es sieht nach einem der tropischen Güsse aus, die jetzt, in der Regenzeit, täglich über Lagos niedergehen. So kommt es dann auch: Binnen Minuten trommelt der Regen auf die Wellblechdächer der Häuser, die das "Fußballfeld" umgeben. "Fußballfeld" ??? "Ja", lacht Yomi. "Bis vor kurzem war das hier noch ein Sandplatz. Dann hat ein Anwohner entschieden, dass er die Zufahrt zu seinem Haus geteert haben möchte". Yomi zuckt die Achseln. "That’s Nigeria for you". Wer Geld hat, der hat das Sagen. Seitdem spielen die Kinder auf Asphalt, barfuß oder in Flip-Flops, Plastiksandalen.

Unfreiwilliges Schulfrei

Einen Vorteil hat die Teerschicht: Der Regen fließt ab und verwandelt den Platz nicht mehr in ein Schlammfeld. Dafür dient der soccer pitch jetzt als Parkplatz für Minibusse. Es dauert eine halbe Stunde, bis der Platz geräumt ist. Jetzt, kurz nach 9 Uhr, haben sich schon um die 100 Fans am "Spielfeldrand" versammelt. Darunter viele Knirpse im Schulalter. Wieder schüttelt Yomi den Kopf: "Eigentlich sollten die Schulen diese Woche wieder anfangen, aber die Behörden haben die Kinder einfach wieder nach Hause geschickt".

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An der Basis: DW-Reporter befragt Fan

Der Regen ist in Nieseln übergegangen, es kann losgehen. Humphrey, einer der freiwilligen Helfer von Search and Groom, verteilt die roten und blauen Trikots, die ein Sponsor zur Verfügung gestellt hat. Eine Mannschaft umfasst jeweils fünf Spieler. Der Schiedsrichter trommelt beide Mannschaften im "Mittelkreis" zusammen. "Ich will keine Ruppigkeiten sehen, sonst gibt es Karten", sagt er und zeigt demonstrativ den gelben und roten Karton. Bevor es losgeht, reichen sich die Spieler die Hände.

TV-Sportmagazin mit der Kamera dabei

In Nigeria ist das mehr als eine sportliche Geste: Mehr als 200 ethnische Gruppen leben in Afrikas bevölkerungsreichstem Land, und nicht immer ist das Verständnis untereinander das Beste, vor allem, weil Politiker Ressentiments schüren. Ajegunle ist ein nigerianischer Mikrokosmos: Auf engstem Raum leben hier Yoruba, Igbo und Hausa, Muslime und Christen zusammen. Vor drei Jahren kam es nach Jahrzehnten der friedlichen Koexistenz zu hässlichen Szenen, als Angehörige der verschiedenen Volksgruppen mit Macheten aufeinander losgingen. Auch deshalb lässt jetzt der Kameramann von Nigerias Sportsendung Frontrow, der unseren Projektbesuch filmt, die jungen Fußballer den Handschlag so lange wiederholen, bis das Bild gut im Kasten ist. Angefeuert von einer bunt gewürfelten Fangemeinde - Pensionäre, Hausfrauen, Babys, fliegende Händler – sprinten die Knirpse dem etwas platten Gummiball hinterher.

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Vorbild Barca - warum denn eigentlich nicht gleich den ganz Großen nacheifern?

Jeder Spielzug wird mit Pfiffen oder Klatschen bedacht. Kaum ein europäisches Topteam, das nicht in Form eines Trikots am Spielfeldrand vertreten ist. Wer kein Geld für einen teuren Fanartikel hat, der malt sich Namen und Nummer seines Idols kurzerhand aufs Tshirt, wie der Knirps, der Nigerias Fußballlegende Jay Jay Okocha nacheifert. Torjubel: Die Blauen haben das Hockeytor getroffen, 1:0, dabei bleibt es bis zum Ende.

Jugendzentren in Nigeria unbekannt

Wir machen uns auf den Weg zum Bale, oder Chief des sog. Löwenviertels, in dem der Fußballplatz liegt. Auch im modernen Nigeria haben die traditionellen Gemeindevorsteher noch erheblichen Einfluss und genießen hohes Ansehen. Keine wichtige Entscheidung im Viertel ohne die Konsultation mit dem Bale! Chief Alhaji Rofiu Layeni empfängt uns auf einem traditionellen Holzthron. Es ist selbstverständlich, dass wir die Schuhe ausziehen, bevor wir die gute Stube betreten.

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"pili pili"- "extrascharf": Spezialitäten zum Lunch

You are welcome to Nigeria", die Standardbegrüßung in diesem so gastfreundlichen Land. "Unser Problem hier ist die hohe Arbeitslosigkeit, die Kriminalität und der Mangel an Freizeitmöglichkeiten", kommt der Chief gleich zur Sache. "Jugendzentren wie in Europa sind in Nigeria unbekannt. Deshalb unterstütze ich das Projekt, denn es sorgt dafür, dass unsere Jugendlichen von der Straße kommen und etwas Sinnvolles zu tun haben". Außerdem trage es zum friedlichen Zusammenleben der verschiedenen Ethnien und Religionen bei, fügt der Gemeindeälteste hinzu, bevor er uns mit einer Handbewegung entlässt. "Come back next year", ruft er noch.

Nigerias Exportschlager

Der nächste Ortstermin: Wir sind mit Dede Ogungbure verabredet. Dede ist der Onkel von Adebowale Ogungbure, einem von Nigerias Exportschlagern, der nach einigen Jahren beim 1.FC Nürnberg inzwischen bei Energie Cottbus spielt. Wie viele nigerianische Internationals kommt auch Ogungbure aus dem Armenviertel Ajegunle. Wie die brasilianischen Stars, die heute in der Bundesliga und der Premier League zaubern, hat er seine ersten Kickversuche in der "Favela" von Lagos unternommen, zwischen Reparaturshops, Coca-Cola- und Bratbuden. Erste Ligaspiele für die Armeemannschaft, dann die Berufung in Nigerias Nationalteam, die Super Eagles, später der Wechsel nach Europa.

Onkel Dede wartet bereits, führt uns in seine 15 Quadratmeter große Wohnung, die er mit seiner Frau teilt. Das Fotoalbum liegt schon griffbereit, auch die Autogrammkarte des Neffen, noch im Trikot von Nürnberg. "Er war ein problemloses Kind, wir haben ihn als Christen erzogen", erinnert sich der Onkel, der heute als Pastor wirkt. Deutschland gefalle ihm gut. Unlängst war Adebowale auf Besuch in Ajegunle, hat draußen mit den Nachbarkids gekickt.

Wer es ins Ausland geschafft hat, gilt als Superreicher

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Abschied von den Streetsoccer-Kids

Ob der Neffe Search and Groom unterstützen wird? "Nun, ich kann nicht für ihn sprechen, aber ich könnte es mir vorstellen. Fragt ihn halt". Aber genau das ist das Problem: Wer es nach Europa oder in die USA geschafft hat, der gilt daheim als Superreicher, und sieht sich über Nacht den Ansprüchen Hunderter von Familienangehöriger ausgesetzt. "Da tauchen Halbgeschwister auf, die hat der noch nie im Leben gesehen", grinst Mike, der Tonmann. "Die erwarten, dass Du mit einer ganzen Flugzeugladung an Geschenken kommst."

Inzwischen ist es weit nach Mittag, Zeit für einen Snack. Yomis Bruder hat in seinem Haus auffahren lassen, es gibt Reis mit Fleisch und der köstlichen nigerianischen Tomatensoße, "pili pili"- "extrascharf". Bald sind 15 Personen in dem kleinen Wohnzimmer versammelt. Meine Gastgeber freuen sich, dass ich kräftig zulange - "Ihr Weißen seid doch so empfindlich", kommt die Erklärung, schallendes Lachen in der Runde.

"When are you coming back"?

Schon bald wird heftig Politik gemacht, gerade hat die Regierung den Benzinpreis um 20 Prozent angezogen. "Eine Sauerei", finden alle im Raum. Die heftige Debatte, der heiße Tee und die Chilischoten tun ihr übriges, bald steht mir der Schweiß auf der Stirn. Ich blase zum Aufbruch. Immerhin haben wir noch Termine mit den Zwillingen Odion und Omo Samson, und das Fernsehteam will noch ein Interview mit dem Gast aus Deutschland.

Um 18,00 Uhr geht ein langer Tag zu Ende. Abschied von Ajegunle, von Yomi und seinem Team - und natürlich den Streetsoccer-Kids. Händeschütteln, Schulterklopfen. "Good to meet you". "When are you coming back". John, 16, drängelt sich heran. "Ich will Dir ein Video von mir zeigen, vielleicht kannst Du mir helfen, einen Club zu finden." Der Streifen zeigt John bei Flanken und Kopfbällen. "Was arbeitest Du", frage ich ihn. "Nichts, ich spiele nur Fußball". Ich gebe John den Rat, sich einen Nebenjob zu besorgen, mit 16 ist er bereits etwas zu alt, um "entdeckt" zu werden. "Okay", sagt er etwas niedergeschlagen und drückt mir die Hand zum Abschied. "Thank you". Auf der Rückfahrt zum Hotel geraten wir in ein gewaltiges Gewitter, im Nu sind die Straßen überflutet. Wir stecken fest im typischen Lagos "Go-Slow", einem Euphemismus für "stundenlanger Stau". Spät am Abend falle ich platt ins Bett.

Am nächsten Morgen steht im Sportteil des Guardian: "Nigerias Fußballoffizielle verbieten den Spielern Ohrringe und Rastafrisuren, weil diese "die Homosexualität" fördern". Welcome to Nigeria... .