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Aussteiger

24. Januar 2012

"Du musst dein Leben ändern" - nach diesem Motto krempeln manche Menschen ihr Leben radikal um, verschenken ihre Millionen, führen ein Leben im Wald, gehen auf Weltreise oder schreiben Bücher.

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Ein Angler läuft über den Sandstrand des Paradise Beach an der Südküste der Insel Upolu in Samoa. Upolu ist neben Savaii die größte Insel des Inselstaats Samoa im südwestlichen Pazifik. Samoa umfasst den westlichen Teil der Samoainseln und ist auch als Westsamoa bekannt.(Undatierte Aufnahme)
Sandstrand auf SamoaBild: picture-alliance/DUMONT Bildarchiv

Vielleicht ist der Philosoph Diogenes aus der griechischen Antike der erste bekannte Aussteiger – er vertrat die Ansicht, dass wahre Freiheit nur darin bestünde, dass man keine Bedürfnisse habe. So verabschiedete er sich vom Ballast des bequemen Lebens und zog in seine viel zitierte Tonne.

Weg vom Alltag – hinaus in die Freiheit! Immer wieder gab es ganze Bewegungen, die Menschen dazu trieben, alles hinter sich zu lassen, ihr Haus, ihr Geld, ihre Familie und Freunde. Die Hippies in den 1960er und 1970er Jahren waren nicht nur träumende Weltverbesserer, die in der kalifornischen Sonne mit marihuana-geschwängerten Hirnen Love, Peace & Happiness feierten.

Viele machten Ernst und reisten davon, nach Indien, nach Afghanistan oder nach Alaska, um sich selbst zu entdecken und das wahre und echte Leben kennenzulernen. Man glaubte fest daran, die Welt verändern zu können, wenn man nur die richtigen Zeichen setzte.

"Ich möchte, dass nichts übrig bleibt"

Bunter Hippiebus (Foto: Fotolia)
Im bunten Bus die Welt retten?Bild: Fotolia/Tracey Loftis

Mittlerweile sieht man das realistischer: Mit einem Ausstieg aus den gesellschaftlichen Normen kann man nicht unbedingt das Weltgeschehen beeinflussen. Aber viele Aussteiger glauben, dass ein radikaler Wechsel des Lebensstils gut für einen selbst ist und vielleicht auch für ein paar Mitmenschen nützlich sein kann.

Der österreichische Millionär Karl Rabeder hatte genug von seinen Häusern, Autos und Flugzeugen. Er trennte sich von seinem Besitz und steckte den Erlös in einen Verein, der Menschen in der Dritten Welt ermöglicht, einen Mikrokredit aufzunehmen. Damit haben sie die Chance, sich ohne weitere fremde Hilfe eine eigene Existenz aufzubauen.

Diese Aktion des Millionärs machte im März 2010 Schlagzeilen. Und viele fragten sich, ob das nicht nur ein einziger Werbegag war. Und ob er nicht doch irgendwo das eine oder andere Milliönchen beiseite gelegt hat. Doch Rabeder hat es tatsächlich durchgezogen.

Karl Rabeder (Foto: privat)
Gutes tun und einfach leben: Ex-Millionär Karl RabederBild: Karl Rabeder

Jetzt lebt er in einer kleinen Almhütte. Sein Budget: 1000 Euro im Monat. Von seinem alten Leben vermisse er nichts, verrät er. Das Glück anderer Menschen bedeute ihm viel mehr als angehäufter Reichtum. Und zu viel Geld mache unfrei.

Selbstfindung im Outback

Nicht nur das. Wer viel Geld verdient, arbeitet in der Regel auch viel – gerade in der Finanzwelt. Frank Krause war Ende 30, ein erfolgreicher Manager in einem Weltkonzern mit einem Top-Gehalt und allen Annehmlichkeiten, die dazu gehören. Die Schattenseite: 12 bis 14 Stunden-Tage, ständig herumreisen, ein Leben aus dem Koffer. Viel zu spät merkte er, dass er regelrecht arbeitssüchtig geworden war. Er wurde krank, litt unter Schlaflosigkeit, Rückenschmerzen und Herzbeschwerden. Der Besuch beim Therapeuten brachte Klarheit: Frank Krause litt unter dem so genannten Burn-Out-Syndrom. Und da zog er die Notbremse.

Er kündigte Job und Wohnung, verließ Deutschland mit nur zwei Koffern und einem Reisepass und verbrachte ein halbes Jahr in Australien. Am Anfang sei das wie ein Alptraum gewesen, erzählt Frank Krause: "Wie ein kalter Entzug wirkte das, plötzlich ohne Handy zu sein, ohne Mitarbeiter, ohne das System, in dem man steckte." Auf einer abgelegenen Farm begann er, seine Eindrücke aufzuzeichnen. Er setzte sich mit seinen eigenen Gedanken auseinander und betrieb dabei eine strenge Selbstanalyse. "Schreibtherapie" nennt er das, dadurch habe er eine Menge von sich gelernt. "Das würde jeden Therapeuten in höchste Freude versetzen, wenn er solche Aufzeichnungen von seinen Patienten bekäme."

Ayers Rock, Australien (Foto: AP)
Flucht ans andere Ende der WeltBild: AP

"Realitätsferne Nostalgie"

Nach sechs Monaten an verschiedenen Stationen in Australien war Frank Krause wieder bereit, nach Deutschland zurückzukehren. Und nicht nur das, er begab sich direkt wieder in sein altes "Suchtumfeld" – als Unternehmensberater. Sein Ziel: Führungskräfte davon zu überzeugen, dass es nicht richtig ist, seine Mitarbeiter "ausbrennen" zu lassen.

Über seine Auszeit in Australien schrieb er ein Buch: "Notstopp – ein Manager mit Burn-Out steigt aus." Damit hat er sich an ein Thema gewagt, das in der stahlglänzenden Manager-Welt mit spitzen Fingern angefasst wird. Professor Bernhard Badura, Experte für Arbeitsmedizin: "Wichtiger als die Gesundheit ist beruflicher Erfolg, der nächste Termin. Wir geraten an die Grenze unseres psychischen Vermögens aufgrund der starken Anforderungen, die wir selber an uns richten und zum anderen, weil wir es nicht gelernt haben, auch bei psychischen Erschöpfungen irgendwann mal regelmäßig Pause zu machen."

Symbolbild Stress (Foto: Fotolia)
Wer seine Mitarbeiter in die Verzweiflung treibt, ist kein guter ChefBild: fotolia/Olga Lyubkin

Totalausstieg ist gefährlich

Andere Kollegen, die offensichtlich gefährdet sind, darauf anzusprechen, sei wenig sinnvoll, meint Frank Krause. Man müsse es selbst merken, dass man den tiefsten Punkt erreicht hat, dann erst sei man bereit, etwas daran zu ändern. Ein Ausstieg auf Zeit wäre da schon eine sinnvolle Sache. Und das am besten sehr weit weg von zu Hause, damit man nicht in Versuchung gerät, zu früh zurückzukehren. Allerdings nicht mehr als acht Monate, empfiehlt Frank Krause, danach werde es immer schwieriger, sich wieder zu integrieren.

Ein Totalausstieg dagegen sei oft mit falscher Selbsteinschätzung verbunden: "Da ist mir oft zuviel realitätsferne Nostalgie dabei. Wenn man vorhat, nach Australien zu gehen und für den Rest seines Lebens Schafe zu züchten, dann muss man dafür auch geschaffen sein. Menschen, die vorher Probleme hatten, werden sie mit einer Herde Schafe nicht unbedingt lösen können."

Es gibt immer wieder Fälle, in denen Aussteiger es nicht geschafft haben, wieder ins Leben zurückzukehren, obwohl es besser für sie gewesen wäre. Sie fristen ein eher erbärmliches Dasein auf irgendeinem Kontinent und vegetieren ihrem Tod entgegen. Ein Beispiel eines solchen Scheiterns schildert der Reporter Jon Krakauer in seinem Buch "Into the Wild". Es ist die wahre Geschichte über einen jungen Studenten aus gut situierter Familie, der alles hinter sich ließ, sein Geld verbrannte, quer durch die USA und schließlich nach Alaska trampte, um dort in der Wildnis zu leben. Die Natur allerdings war stärker, der Junge verhungerte.

Filmszene 'Into the Wild' (Foto: picture aliance)
Sean Penn hat "Into the Wild" verfilmt, mit Emile Hirsch als Aussteiger Christopher McCandlessBild: picture alliance/Mary Evans Picture Library

Leben am Rand der Gesellschaft

Dennoch gibt es mehr Totalaussteiger als man denkt. Sie leben im Wald, gehen als Mönch ins Kloster, gründen esoterische Kommunen. Dafür nehmen manche sogar die Trennung von Familie und Freunden in Kauf. Warum sie das tun, kann unterschiedliche Gründe haben. Burn-Out im Berufsleben ist nur einer davon. Andere wollen sich einfach von der Gesellschaft abwenden, sich unabhängig machen.

Aussteiger Wulf Gerstenmaier sitzt im Garten seines Hauses in Port of Spain und malt (Foto: picture alliance)
Ein Deutscher auf Trinidad: Hier hat er die Malerei entdecktBild: picture-alliance/dpa

Viele möchten naturverbundener leben. Manche wollen ein Statement gegen die Konsumgesellschaft abgeben, leben freiwillig auf der Straße und ernähren sich vom reichhaltigen Müll aus den Containern, die hinter den Supermärkten stehen. Nicht ganz so radikale Aussteiger sind schon damit zufrieden, wenn sie ihr Gemüse aus dem eigenen Garten essen. Sicherlich sind viele von ihnen schrullige Typen. Allen von ihnen aber ist gemein, dass sie auf Materielles verzichten, um das Ideelle aufzuwerten.

Die Erben des Diogenes

Geld kann also krank machen, Arbeit und Verantwortung treiben Menschen in Psychosen. Es mag sein, dass man in einem Dorf in der Sahelzone große Lacher erntet, wenn man davon erzählt, dass in Deutschland Banker und Manager reihenweise umkippen, weil sie den Arbeitsdruck nicht mehr aushalten. Es scheint ein Luxusproblem zu sein – doch es ist ein Spiegel der industrialisierten Gesellschaft. Wir besitzen einfach zuviel, um frei zu sein. Hunderte Feng-Shui-Bücher werden jährlich auf den Markt geworfen, in denen man dazu aufgefordert wird, sich von Überflüssigem zu trennen. Freiheit durch Verzicht – schon sind wir wieder beim Philosophen Diogenes von Sinope, der vor 2400 Jahren gezeigt hat, wie man als Aussteiger zu sich selbst finden kann. Dazu muss man heutzutage nicht unbedingt in einer Tonne leben.

Diogenes in der Tonne (Darstellung von Jean-Léon Gérôme (1860))
Diogenes in der Tonne (Jean-Léon Gérôme, 1860)

Autorin: Silke Wünsch
Redaktion: Gudrun Stegen