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Neue Dimensionen des Terrors in der Türkei

Baha Güngör 21. November 2003

Nach den jüngsten Anschlägen sitzt der Schock in der türkischen Öffentlichkeit tief. Warum ist die Türkei plötzlich zu einem Ziel für Terror geworden? Wer steckt hinter den Gewaltakten?

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Radikale Maßnahmen sollen zukünftig Anschläge verhindernBild: AP

Erst die jüdische Gemeinde, jetzt zwei britische Einrichtungen. Was sind die Motive? Die Juden haben keine Probleme in der Türkei und leben seit Jahrhunderten friedlich mit den türkischen Moslems. Großbritannien gehört zu den Ländern Europas, die die Heranführung der Türkei an die Europäische Union wie Deutschland befürworten. Wollten die Terroristen mit ihren Anschlägen den Europakurs und die weitere Festigung von europäischen Werten und Normen unter dem türkischen Halbmond erschweren?

Nicht ausgeschlossen werden kann aber auch, dass die guten diplomatischen und militärischen Beziehungen der Türkei zu Israel die militanten islamischen Fundamentalisten auf den Plan gerufen haben könnten. Als eine weitere Motivation der Terroristen gilt die prowestliche und vor allem proamerikanische Politik der Türkei, auch wenn sie sich überzeugend gegen den Irak-Krieg ausgesprochen und sich auch sonst geschickt vor einem übermäßigen militärischen Engagement an der Seite der USA und Großbritanniens im Irak gehütet hatte.

Nicht nur Menschen in Gefahr

Fest steht, dass die innere Stabilität und die auf dem Prinzip des Laizismus, der strikten Trennung von Staat und Religion, basierende verfassungsmäßige Grundordnung der Türkei gefährdet wird. Auch die Risiken für die Fortschritte in den Bereichen Menschen- und Minderheitenrechte sowie Demokratie und nicht zuletzt wirtschaftliche Entwicklung mit dem Ziel, der Europäischen Union beizutreten, sind nach den Anschlägen größer geworden.

Internationale Terror-Verflechtung

Die Türkei sieht sich nicht zum ersten Mal terroristischer Bedrohung ausgesetzt. Doch noch nie zuvor war der internationale Charakter so deutlich, weil die Wurzeln des Terrorismus nicht in der Türkei zu suchen sind. Die militanten Gruppen in der Türkei verfügen nicht über Strukturen und Mittel zur Durchführung derartiger Anschläge. Gegen diese Gruppen hat der türkische Sicherheitsapparat in der Vergangenheit stets hart durchgegriffen. Ihr Handlungs- und Entfaltungsspielraum wurde damit auf ein Minimum reduziert.

Nun aber scheinen Extremisten in der Türkei breit gefächerte logistische Unterstützung von internationalen Terror-Netzwerken erhalten zu haben. Darauf zu reagieren, ist für die türkische Führung nicht einfach. Die Grenzen zu Syrien, Irak und Iran sind als durchlässig bekannt. So überrascht die Vermutung nicht, dass der Sprengstoff der letzten Anschläge aus oder zumindest über Nordirak in die Türkei gelangt ist.

Radikale Maßnahmen geplant

Die türkische Staats- und Militärführung hat radikale Maßnahmen angekündigt. Der Nationale Sicherheitsrat unter Vorsitz von Staatschef Sezer will darüber beraten. Der Generalstab garantierte in einer Stellungnahme der türkischen Öffentlichkeit, dass die Streitkräfte "wie immer dazu bereit sind, ihre Aufgaben lückenlos zu erfüllen, um die unteilbare Einheit der türkischen Republik und der türkischen Nation zu wahren". Doch Militär und Politik in der Türkei stecken in einem Dilemma. Einerseits soll die Demokratisierung nicht gefährdet werden. Andererseits aber wird von großen Teilen der türkischen Öffentlichkeit hartes Durchgreifen erwartet.

Welche der angekündigten "radikalen Maßnahmen" ergriffen werden, bleibt vorerst offen. Die Gewerkschaften und zivile Gesellschaftsgruppen wollen sich in den drei größten Städten Istanbul, Ankara und Izmir mit gemeinsamen Kundgebungen dagegen wenden, dass die türkische Gesellschaft zu einer "zum Schweigen verurteilten, verängstigten Gesellschaft" verwandelt wird. Darin enthalten ist die Sorge vor einem Rückfall in einen autoritären und von der Verletzung von Menschenrechten geprägten Staat Türkei.