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Proteste in Montenegro

Nemanja Rujevic13. November 2015

Die Proteste gegen die Regierung in Montenegro gehen in eine neue Runde. Sie richten sich gegen einen Premier, der seit 24 Jahren herrscht – aber auch gegen einen NATO-Beitritt, berichtet Nemanja Rujević aus Podgorica.

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Graffiti "Nicht in die NATO“ in Montenegro (Foto: Rujevic/DW)
"Nicht in die NATO“ steht auf einem Graffiti im Zentrum der montenegrinischen Hauptstadt PodgoricaBild: DW/N. Rujević

Die Sonne dieser warmen Novembertage spiegelt sich in der Bronze des montenegrinischen Königs Nikola I. auf seinem Pferd. Der beliebte Herrscher, der im 19. Jahrhundert die Unabhängigkeit des Landes gegen die Osmanen verteidigte und eine enge Bindung zu Russland knüpfte, hat auf der anderen Seite der Straße passende Gesellschaft: Ein Denkmal dort zeigt den russischen Nationaldichter Alexander Puschkin, der gerade einer Dame seine Poesie vorträgt.

Eine bessere Kulisse für ihre Proteste hätten sich die montenegrinische Opposition – angeführt von einer pro-serbischen Partei harter NATO-Gegner – kaum wünschen können. Dort, zwischen Nikola I. und Puschkin, harrten die Demonstranten wochenlang in Zelten aus und lieferten sich Ende Oktober Gefechte mit der Polizei, als sie die Proteste mit ungewöhnlicher Härte niederschlug. Bilder zeigten dutzende Bereitschaftpolizisten, die einen Bürger verprügelten und sein Auto zerstörten. Noch am Tag danach, erzählen Einwohner der Stadt, konnten sie auf den Straßen von Podgorica weiterhin das Tränengas riechen.

Montenegro Proteste in Podgorica (Foto: AP Photo/Risto Bozovic)
Heftige Auseinandersetzung der montenerinischen Polizei mit den Demonstranten in PodgoricaBild: picture-alliance/AP Photo

Nationalistischer Beigeschmack

Doch worum geht es eigentlich genau? Das hängt ganz davon ab, wen man fragt. Während die Organisatoren der Proteste darauf beharren, dass es um einen Aufstand des Volkes gegen den seit einem Vierteljahrhundert regierenden Premier Milo Đukanović gehe, gegen Elend und Korruption, erwidert die Regierung, die Proteste seien ausschließlich gegen einen bevorstehenden Beitritt des Landes zur NATO gerichtet und von Serbien und Russland gesteuert. Das winzige Adrialand mit seinen 600.000 Einwohnern jedenfalls ist tief gespalten: in Sympathisanten und Gegner der herrschenden Demokratischen Partei der Sozialisten, in erklärte Montenegriner und Serben, in Befürworter und Verächter des nordatlantischen Militärbündnisses.

Ja, die Situation sei komplex, sagt auch Edin Koljenović. Der junge Aktivist beobachtete die Proteste für die NGO Die Bürgerliche Allianz. "Die ursprüngliche Idee war es, all die Unzufriedenheit zu nutzen, die auch der wirtschaftlichen und sozialen Lage gilt", sagt er und zeigt auf den Boulevard, auf dem tausende Bürger protestierten. Mit der Zeit aber seien die Demos "sehr einseitig" geworden – zu erleben seien immer mehr serbische Flaggen, nationalistischen Symbole und Lieder. Dazu Brandreden von serbisch-orthodoxen Priestern, die die Abspaltung Montenegros von Serbien vor neun Jahren noch nicht verkraftet haben. "So hat man die Mehrheit der Bürger vertrieben. Diejenigen, die auch unzufrieden sind, die aber nicht an Protesten mit einer solchen Ikonografie teilnehmen wollen", meint Koljenović.

Montenegro Edin Koljenović Aktivist Die bürgerliche Allianz (Foto: Rujevic/DW)
Edin Koljenović: "Die Proteste sind sehr einseitig pro-serbisch geworden"Bild: DW/N. Rujević

Dem Slaven Radunović dagegen kommt genau die Ikonografie ganz gut gelegen. Der Abgeordnete der Partei Neue Serbische Demokratie empfängt in seinem Büro in Stadtzentrum, wo die serbische Flagge zum Dekor gehört und laute Musik aus dem Radio tönt. "Das ist wegen des Lauschens. Wir alle werden vom Regime abgehört", ist er sich sicher. Gemeinsam mit zwei seiner Mitstreiter wird sich Radunović bald vor dem Gesetz verantworten müssen. In einer Rede während der Demonstrationen habe er zum "gewalttätigen Sturz der Verfassungsordnung" aufgerufen, sagt die Staatsanwaltschaft. Die regierende Mehrheit kann es darum kaum erwarten, seine parlamentarische Immunität aufzuheben.

Montenegro Slaven Radunović Opposition (Foto: Rujevic/DW)
Slaven Radunović: "Keinerlei Unterstützung aus Moskau"Bild: DW/N. Rujević

"Das eigentliche Ziel dieser politischen Anklage ist es, Angst zu verbreiten und einfache Menschen auf Linie zu bringen", sagt der Serbenvertreter. "Es ist naiv zu glauben, dass mit fünf geworfenen Steinen und zwei Fackeln einen Staat zu stürzen ist. Vor allem, weil die Ordnungshütter offensichtlich bereit sind, das Regime bis zum letzten Mann zu verteidigen."

Regierungschef unter Druck

Die größte serbisch-orientierte Partei in Montenegro ist dabei zu einem gewissen Spagat gezwungen: Einerseits ist sie vehement gegen einen NATO-Beitritt und versteht sich als Vertreter etwa eines Drittels der Bevölkerung, das sich als ethnische Serben definiert und traditionell russlandfreundlich ist. Anderseits muss die Partei innerhalb der sogenannten Demokratischem Front aber auch mit anderen oppositionellen Parteien zusammenarbeiten, die einen Beitritt zur NATO für gar nicht so schlecht für das Land halten. Da sieht Radunović aber kein Problem: "Priorität ist es, Đukanović von der Macht zu trennen. Er ist ein Hinderniss für jeglichen Reformen."

Der aktuelle Regierungschef regiert seit 1991 – und hat sich seither wie ein Chamäleon gewandelt: Als Kommunist betrat er die Politbühne, wurde dann zum Nationalisten und gibt sich jetzt als Anhänger von EU und NATO. Radunović nennt ihn deshalb spöttisch "den letzten Politiker aus Sowjetzeiten" und einen Genossen von Erich Honecker. Jahrelang ließ Đukanović jegliche Kritik von sich abprallen – egal, ob es um gefälschte Wahlen und Vetternwirtschaft ging oder Vorwürfe der italienischen Staatsanwaltschaft, die ihn persönlich als Schutzherren des Zigarettenschmuggels in den Neunziger Jahren bezeichnete.

Was die Opposition dabei wirklich in die Verzweiflung treibt: Đukanović, der bei Wahlen immer die meisten Stimmen holt und dann Koalitionen schmieden kann, ist gerade einmal 53 Jahre alt. "Er könnte also noch lange, lange regieren", meint Draško Đuranović, Chefredakteuer der regierungsnahen Tageszeitung Pobjeda. Obwohl viele Bürger in Armut leben und Đukanović viele "korrupte Lümmel in den eigenen Reihen" habe, mache ihm die Opposition mit ihren "stupiden Ideen" das Leben leicht: "Die Bürger können in der Reihen der Opposition keine ehrlichen politischen Ideen erkennen. Das ist auch schwierig, wenn sich Parteien, die gegen die montenegrinische Unabhängigkeit sind, mit denen zusammentun, die dafür sind", sagt Đuranović.

Unter dem NATO-Schirm

Die Stimmung in Podgorica heizt sich gerade zusätzlich auf, weil der Zeitpunkt der Einladung zur NATO naht. Es gilt als ziemlich sicher, dass Montenegro schon Anfang Dezember grünes Licht von dem Militärbündnis bekommt – vor allem nach dem ausgewogenen Fortschrittsbericht der EU, der am Dienstag vorgestellt wurde. Doch von welcher Drohung sucht Montenegro eigentlich Schutz in der NATO? Die Frage sei zu vereinfacht, sagt Đuranović. Der Redakteur sieht das Bündnis auch als politischen und rechtstaatlichen Reformanker. "Kein NATO-Mitglied hat territoriale Auflösung erlebt und kein Land hat die NATO verlassen. Und obwohl es keine direkten Drohungen gibt, ist es auch sicherheitspolitisch klug, unter dem Schirm einer mächtigen Organisation zu stehen."

Montenegro Draško Đuranović Journalist (Foto: Rujevic/DW)
Draško Đuranović: "Opposition hat keine ehrlichen politische Ideen"Bild: DW/N. Rujević

Slaven Radunović würde dem heftig widersprechen. Er gibt zu, dass auch Emotionen eine Rolle dabei spielen – weil die NATO mit ihren Bomben während des sogenannten "Kosovokrieges" in Serbien und Montenegro 1999 hunderte Zivilisten tötete. Der Politiker aber versucht, auch rational zu argumentieren: "Für kleine Länder wie Montenegro ist Neutralität auch wirtschaftlich wichtig. Ohne Neutralität werden Investitionen der anderen Seite ausbleiben." Die andere Seite ist dabei Russland, das eine NATO-Erweiterung auf dem Balkan nur ungern sieht. Trotzdem dementiert Radunović die Beschuldigungen seitens Đukanović, die Opposition wird aus Moskau unterstützt und gesteuert. Man habe für die Demonstrationen gegen die Regierung keinerlei Unterstützung aus Russland erhalten, "weder politisch, noch moralisch oder finanziell", beteuert er.

Am Sonntag sollen diese Proteste in eine neue Runde gehen: Mit einer Menschenkette will die Demokratische Front Regierungsgebäude umstellen und so symbolisch für eine Übergangsregierung und "echt demokratische" Wahlen demonstrieren. Der Aktivist Edin Koljenović wird wieder dabei sein, um mögliche Polizeigewalt zu dokumentieren. Ob die Menschenkette überhaupt lang genug sein wird, weiß er nicht. "Ich denke aber, dass die regierende Partei eigentlich am meisten davon profitiert. Denn die Energie und die Unzufriedenheit der Bürger sind schon abgenutzt."

Neuwahlen – darauf hat Premier Đukanović keine Lust. Die Opposition wird also wohl den regulären Termin im nächsten Herbst abwarten müssen. Und bis dahin ist Montenegro wahrscheinlich schon längst das neueste Mitglied der NATO.