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Kampusch: Das selbstbestimmte Opfer

Greta Hamann23. August 2016

Am 23. August jährt sich der Tag von Natascha Kampuschs Flucht zum zehnten Mal. Seit der ersten Sekunde zurück in Freiheit will sie mitbestimmen, was über sie berichtet wird. Damit kommen nicht alle klar.

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Natascha Kampusch Buchpräsentation (Foto: picture-alliance/Zeus/PPS)
Natascha Kampusch bei der Präsentation ihres aktuellen Buchs "10 Jahre Freiheit"Bild: picture-alliance/Zeus/PPS

Achteinhalb Jahre - 3096 Tage - wurde sie von dem Täter, der sich am Tag ihrer Flucht umbrachte, in seinem Haus in Niederösterreich gefangen gehalten. "3096 Tage" - so heißt das Buch, das Natascha Kampusch vier Jahre nach ihrer Flucht veröffentlichte, und so heißt auch der Film, der von ihrer Jugend in Gefangenschaft erzählt.

Schon in ihrem ersten Fernsehinterview - nur zwei Wochen nach ihrer Flucht - äußerte die damals 18-Jährige den Wunsch, Herrin über ihre Geschichte zu sein: "Ich möchte vielleicht, oder auch nicht, ein Buch über mich selbst schreiben. Ich möchte aber nicht, dass sich irgendjemand anderes als Experte über mein Leben ausgibt. Wenn, dann schreibe ich das selbst." Und das hat sie getan. Nach ihrem ersten Buch im Jahr 2010 und dem gleichnamigen Film, bei dem sie eng in den Entstehungsprozess eingebunden war, brachte sie in diesem Jahr ihr zweites Buch "10 Jahre Freiheit" heraus.

Natascha Kampusch erstes Fernsehinterview (Foto: picture-alliance)
Natascha Kampusch bei ihrem ersten TV-Interview im Jahr 2006Bild: picture-alliance/ag_gk/A. Gebert

Die vielen TV-Auftritte, die Medieninterviews, der Film, die Bücher. All das scheint wie ein Versuch Natascha Kampuschs, Kontrolle über ihr Leben und über das, was über sie gesagt wird, zu behalten. Kontrolle, die sie in den achteinhalb Jahren, in denen sie ihrem Entführer Tag und Nacht ausgeliefert war, nicht hatte.

Achteinhalb Jahre in einem Kellerraum

Wolfgang Priklopil, so hieß der Mann, der die damals zehnjährige Kampusch am 2. März 1998 auf ihrem Weg zur Schule entführte und sie zu sich nach Hause brachte. Er sperrte sie in einen fensterlosen Kellerraum, der mit einer Tresortür verriegelt war. Er demütigte die junge Frau, misshandelte sie, fesselte sie an sich, ließ sie hungern, filmte sie. "Er hat versucht, mir so wenig Kleidungsstücke wie möglich zu geben, um mir zu zeigen, dass er der Herr ist und ich nur der Sklave und unterdrückt bin", erzählt Natascha Kampusch in einer ORF-Dokumentation, die anlässlich ihrer zehnjährigen Befreiung veröffentlicht wurde.

Doch der Täter schafft es nicht, ihren Willen zu brechen. Sowohl in ihrem ersten Buch als auch in den zahlreichen Interviews betont sie immer wieder, dass sie nicht nur ein hilfloses Opfer gewesen ist in den achteinhalb langen Jahren. Sie habe oft versucht, ihm den Spiegel vorzuhalten, sich gegen ihn aufzulehnen: "Er hat es gemerkt, wenn er angeeckt ist und wenn er nicht weiterkam. Es war teilweise so, als hätte man es mit einem Kind in der Trotzphase zu tun."

Natascha Kampusch ist ein Opfer, wie es viele nicht erwarten würden. Sie ist eine starke Frau, die selbstbestimmt handelt und offen spricht. Eine Frau, die weiß, was ihr angetan wurde, und welche Macht ihre Geschichte haben kann. "Natascha Kampusch - Sie sind das begehrteste Gesicht der Welt", sagte der Journalist, der die damals 18-Jährige vor zehn Jahren als Erster öffentlich interviewen durfte. Kampuschs Antwort damals: Sie streckte die Zunge heraus und riss überfordert die Augen auf. Doch schon Sekunden später hatte sie sich wieder gefasst und setzte zu einer ausführlicheren Antwort an: "Ich habe durch die Aufmerksamkeit eine Verantwortung und möchte das auch nutzen. Auch zu meinem eigenen Vorteil und zum Vorteil von anderen Menschen."

Buchcover "3096 Tage" (Foto: Ullstein)
"3096 Tage" - Natascha Kampuschs erstes BuchBild: picture-alliance/dpa

Kampusch finanziert Kinderkrankenstation

Schon damals reiften Pläne in ihr. Sie, die selbst gerade aus der dem Haus entkommen war, in dem sie ihre komplette Jugend festgehalten wurde, sprach kurz nach ihrer Befreiung davon, dass sie eine Stiftung gründen wolle, erzählte von Frauenmorden in Mexiko und hungernden Menschen. Sie wolle das Geld, das sie durch die Berichterstattung verdiene, dazu nutzen, das Leiden in der Welt zu verringern.

Und es waren keine leeren Worte: Natascha Kampusch half, eine Kinderkrankenstation auf Sri Lanka zu finanzieren, und engagiert sich bis heute in ihrem Alltag sozial, besuchte in einem Pflegeheim bedürftige Menschen und versucht, mit der Hilfe einer dort gewonnenen Freundin Flüchtlinge in dem Haus, in dem sie gefangen gehalten wurde, unterzubringen.

Das Haus gehört ihr heute. Zwei Drittel wurden ihr als Entschädigung zugesprochen, das letzte Drittel kaufte sie der Mutter des Täters ab. Der vom Täter gegrabene Keller, in dem Kampusch die meiste Zeit leben musste, wurde kurz nach ihrer Flucht zugeschüttet.

Alle zwei Monate komme sie in das Haus, erzählt Natascha Kampusch in der diesjährigen ORF-Doku, wenn der Strom abgelesen werden muss oder Reparaturen anfallen. "Es soll eine Entschädigung sein, aber es ist auch eine Belastung. Im Grunde genommen geht es mir meistens schlecht, wenn ich hierher komme, weil ich mich nicht wohl fühle", sagt sie. Doch sie möchte das Haus vorerst erhalten, um ihre Erlebnisse besser verarbeiten zu können.

Medien erfinden Verschwörungstheorien

Als sie mit den Journalisten weiter durch das Haus geht, kommt sie zu einer Kommode. Aus dieser holt sie eine Plastiktüte mit einer Haarsträhne. Die habe sie verwahrt, bevor ihr Kidnapper ihr die Haare geschoren habe, erzählt Kampusch. Doch die Geschichte vieler Medien ist eine andere: Es sei die Locke des Kindes, das sie in ihrer Gefangenschaft geboren und umgebracht habe.

Dies ist nur eine von vielen Geschichten, die über Natascha Kampusch und ihren Fall erfunden und erzählt wurden. Bis heute hält sich beispielsweise die These, dass es neben Wolfgang Priklopil noch einen weiteren Täter gegeben haben soll - trotz gegenteiliger Ermittlungsergebnisse.

Filmszene (Foto: Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk)
Die Entführung Kampuschs hier in einer Szene aus dem Film "3096 Tage"Bild: 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk

Diese Geschichten zeigen: Auch nach ihrer Befreiung wird Natascha Kampusch ihre Vergangenheit nur schwer los. Ihr wird bis heute von manchen Menschen öffentlich vorgeworfen zu lügen, sie wurde sogar auf offener Straße angegriffen. Immer wieder muss sie sich rechtfertigen, fährt nur noch Taxi.

"Ich bin in einem Gefängnis der Urteile"

Auf die Frage, ob sie sich in den letzten zehn Jahren jemals frei gefühlt habe, antwortet sie: "So richtig frei vielleicht in ganz wenigen Momenten. Aber es war auch ein Gefängnis, in das ich da zurückgekehrt bin. Ein Gefängnis der Urteile und Verurteilungen. Ein Gefängnis der Gesellschaft."

Es ist eine Gesellschaft, die ein konkretes Bild von einem Opfer hat. Ein Opfer, das leidet, das trauert, das den Blick senkt und mündliche wie körperliche Demütigungen über sich ergehen lässt, in der Hoffnung eines Tages befreit, erlöst zu werden.

Natascha Kampusch hat sich schon in der Gefangenschaft nicht in diese Rolle drängen lassen. Das belegen Videoaufnahmen des Täters, das belegen ihre eigenen Aussagen. Ihre Flucht bezeichnet sie als Selbstbefreiung, und mit dieser und auch in ihrem Umgang mit ihrer Geschichte hat sie bewiesen, dass sie sich der Rolle des Opfers nicht fügen will und auch nicht wird. So wie sie einst ihrem Peiniger den Spiegel vorhielt, tut sie es heute auch mit der Gesellschaft.

Bei einem anderen kürzlich geführten TV-Interview wurde sie gefragt, ob sie manchmal noch Angst habe. Der Journalist meinte eigentlich Angst vor anderen Entführern, vor Kellern oder Ähnlichem. Doch Kampuschs Antwort: Ja, Kellersituationen seien schon gruselig, aber mehr Angst mache ihr die aktuelle politische Situation und die gespaltene Gesellschaft.