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"Fukushima hat meine Sichtweise grundlegend verändert"

Gabriel Dominguez11. März 2015

Wie hat die Atomkatastrophe Japan verändert? Vier Jahre nach Fukushima kritisiert der damalige Premier Naoto Kan im exklusiven DW-Interview scharf den Einfluss der Atomlobby und den Kurs der derzeitigen Regierung.

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Früherer japanischer Premierminister Naoto Kan. (Foto: EPA)
Bild: picture-alliance/dpa

DW: Seit dem Reaktorunfall von Fukushima sind vier Jahre vergangen. Was sollte Japan aus dieser Katastrophe gelernt haben, und was hat es daraus gelernt?

Naoto Kan: Leider habe ich den Eindruck, dass weder die japanischen Fachleute noch das japanische Volk ausreichende Lehren aus der Katastrophe gezogen haben. Hätte der Unfall nur etwas größere Ausmaße gehabt, hätte man Menschen in einem Umkreis von 250 km langfristig evakuieren müssen - der Raum Tokio und damit 50 Mio. Menschen wären davon betroffen gewesen. Solche kolossalen Schäden treten normalerweise nur nach einer vernichtenden Kriegsniederlage auf.

Aber viele japanische Fachleute und Bürger verschließen die Augen vor diesem enormen Risiko; sie wollen nicht daran denken oder es so schnell wie möglich vergessen. Das ist die allgemeine Stimmung.

IAEA-Experten besuchten das Atomkraftwerk Fukushima im April 2013. (Foto: Greg Webb/IAEA)
IAEA-Experten besuchten das Atomkraftwerk Fukushima im April 2013Bild: CC BY-SA 2.0/ Greg Webb / IAEA

Wie hat die Fukushima-Krise Ihre Sicht der Kernenergie und ihrer Risiken verändert, insbesondere in einem erdbebenreichen Land wie Japan?

Vor der Katastrophe glaubte ich, dass kein schwerer atomarer Unfall in Japan passieren könne, da unsere Technologie sehr fortgeschritten ist. Ich dachte, man müsse nur sorgfältig damit umgehen. Aber dennoch hat es den schweren Reaktorunfall in Fukushima gegeben, und mehr als 200.000 Menschen mussten evakuiert werden. Wäre das Ausmaß des Unfalls nur ein wenig größer gewesen, wäre Japan für zwanzig bis dreißig Jahre ins Chaos gestürzt.

Der Unfall hat meine Sichtweise grundlegend verändert. Ich halte die Kernenergie für die gefährlichste Form der Energiegewinnung, und das Risiko ist zu groß, um diese Technik weiter einzusetzen. Ich versuche, diese Meinung so gut wie möglich im In- und Ausland zu propagieren.

Was halten Sie von Premierminister Shinzo Abes Plan, die Kernreaktoren in Japan wieder in Betrieb zu nehmen? Ist Japan bereit für diesen Schritt?

Ich bin gegen die Wiederinbetriebnahme japanischer Kernreaktoren. Der Grund liegt einerseits darin, dass die genauen Gründe für den Reaktorunfall in Fukushima und seine weitreichenden Folgen noch nicht hinlänglich untersucht sind. Andererseits steigt mit dem Wiedereinstieg in die Kernenergie die Gefahr eines erneuten Unfalls.

Gibt es in Japan derzeit eine reelle Alternative zur Kernenergie?

In Japan wird zurzeit keinerlei Atomenergie produziert, doch wir sind dennoch ausreichend mit Strom versorgt. Heute basiert die Energiegewinnung vor allem noch auf Öl und Erdgas, aber auf lange Sicht wäre eine Umstellung auf erneuerbare Energien wie Solarenergie oder Windenergie möglich. Seit ich nach der Atomkatastrophe das Fördergesetz für alternative Energien auf den Weg gebracht habe, das feste Preise für die Einspeisung alternativ erzeugten Stroms in das Stromnetz festlegt, ist die Zahl kommerzieller Stromerzeuger, die alternative Energien produzieren möchten, enorm gewachsen. Ich bin daher überzeugt, dass wir in zehn Jahren durch erneuerbare Energien so viel oder sogar mehr Strom herstellen können als früher durch unsere Atomkraftwerke.

Seit der Atomkatastrophe wurde Fukushima die gefährlichste Baustelle der Welt. (Foto: IAEA/David Osborn)
Seit der Atomkatastrophe wurde Fukushima die gefährlichste Baustelle der WeltBild: CC BY-SA 2.0/IAEA/David Osborn

Man sagt, dass die japanische Atomlobby starken Einfluss auf die Politik und die Medien hat. Wie beurteilen Sie das?

Vor der Fukushima-Katastrophe glaubten viele Japaner, dass Atomenergie preiswert und sicher sei. Doch nun wurde deutlich, dass Atomkraftwerke gefährlich und ihre Kosten im Vergleich zu anderen Energieformen hoch sind. Diese Erkenntnis sollte eigentlich dazu führen, die Atomenergie aufzugeben. Aber die Stromindustrie war nicht bereit, auf ihre bisherigen Privilegien und Gewinnmargen zu verzichten und übte mit entsprechenden Kampagnen Einfluss auf Politiker und die Medien aus. So befürwortet heute zwar mehr als die Hälfte der Japaner den Ausstieg aus der Atomenergie, nicht aber die Mehrheit der Parlamentsabgeordneten. Dies möchte ich ändern und engagiere mich gegen die Macht der Atomlobby.

Sind die Sicherheitsmaßnahmen japanischer Atomkraftwerke gegen Naturkatastrophen verbessert worden? Und wie beurteilen Sie das Problem der Endlagerung?

Zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen gegen Naturkatastrophen wurden ergriffen, z.B. die Anhebung von Notstromaggregaten, die in Fukushima an zu niedriger Stelle platziert worden waren, oder die Erhöhung von Schutzwällen. Aber das reicht meiner Meinung nach keineswegs aus. Denn eine der Ursachen der Fukushima-Katastrophe war der Zusammenbruch der externen Stromversorgung. Dass Hochspannungsmasten durch Erdbeben umstürzen, kann auch heute jederzeit passieren.

Es gibt weder ein Atommüll-Endlager in Japan noch Pläne oder Entscheidungen, was zu tun ist. Abgebrannte Brennstäbe werden zumeist in Abklingbecken nahe der Reaktoren aufbewahrt, doch hier wird der Raum knapp, und die Frage der Endlagerung ist nicht geklärt. Man kann dies mit einer Wohnung ohne Toilette vergleichen. Also selbst wenn man die Atommeiler wieder in Betrieb nähme, könnte man den Nuklearabfall dennoch nicht entsorgen.

Japans Regierung plant die AKWs, wie die Atomanlage Sendai auf dem Foto, wieder in Betrieb zu nehmen. (Foto: AP)
Japans Regierung plant die AKWs, wie die Atomanlage Sendai auf dem Foto, wieder in Betrieb zu nehmenBild: picture-alliance/AP Photo/Kyodo News

Es scheint, als hätte die japanische Anti-Atomkraftbewegung in den letzten Monaten an Einfluss verloren. Warum ist das so, und welches Rat würden Sie den Japanern gerne geben?

Die japanische Anti-Atomkraftbewegung hat in den letzten Monaten keinesfalls an Kraft oder Basis eingebüßt. Auch heute zeigen Meinungsumfragen, dass eine große Mehrheit der Japaner den Ausstieg aus der Kernenergie wünscht. An diesem starken Widerstand der Bevölkerung scheitert insbesondere auch die Wiederinbetriebnahme von Kernreaktoren, die von der derzeitigen LDP-Regierung propagiert wird.

Leider konnte sich die Atomenergie bei den drei nationalen Wahlen, die seit der Katastrophe stattgefunden haben, nicht als Kernthema im Wahlkampf etablieren. Im Zentrum standen vielmehr wirtschaftliche Probleme, und die LDP besitzt nun die Mehrheit im Parlament. Obwohl also 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung einen Atomausstieg wünschen, befürworten 60 bis 70 Prozent der Abgeordneten die Kernenergie. Gegen diese Verdrehung müssen die Parteien und wir Politiker angehen, so dass die Volksvertreter endlich tatsächlich die Meinung des Volkes im Parlament repräsentieren.

Deutschland hat nach Fukushima eine radikale Energiewende vollzogen und einen Atomausstieg beschlossen, der aber mit hohen Kosten verbunden ist. Kann Japan etwas von Deutschland lernen auf dem Weg von der Kernenergie zu erneuerbaren Energien?

Die Behauptung der Atomlobby, Kernenergie sei günstiger als Öl oder Erdgas, ist eindeutig falsch. Das geben mittlerweile auch viele Fachleute zu. Rechnet man die Entschädigungsgelder bei Unfällen oder die Kosten für die Endlagerung mit ein, ist sie teurer als Öl oder Erdgas.

Ähnlich wie in Deutschland ist auch in Japan die Technologie zur Gewinnung erneuerbarer Energien weit entwickelt. Aber leider haben wir erst zwanzig Jahre nach Deutschland gesetzliche Tarife festgelegt, zu denen alternativer Strom ins Stromnetz eingespeist werden kann. Das ist erst nach der Fukushima-Katastrophe geschehen. Aber in den gut drei Jahren seitdem sind Betriebsanträge für alternative Kraftwerke wie Solar- und Windkraftanlagen gestellt worden, die eine Gesamtleistung von 70 Mio. kWh bringen können. So haben wir zwar verspätet gestartet, wollen uns aber wie Deutschland der erneuerbaren Energie zuwenden. Deutschland ist dabei ein Vorbild, von dem wir lernen können.

In Deutschland sind viele Bürger auf verschiedene Weisen an der Gewinnung und Entwicklung alternativer Energien beteiligt. Dies hat die Politik bestärkt, den Atomausstieg zu beschließen. Ich möchte daher mehr darüber erfahren, wie die Deutschen zu ihrer Überzeugung und schließlich zu dieser Entscheidung gelangten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Naoto Kan von der Demokratischen Partei Japans (DPJ) war vom 8. Juni 2010 bis zum 2. September 2011 Premierminister Japans.

Die Fragen stellte Gabriel Dominguez.