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Kein zweiter Böll

1. November 2010

Lange stand der Kölner Nachkriegsautor Dieter Wellershoff im Schatten berühmterer Generationskollegen wie Heinrich Böll oder Günter Grass, für die Bücherschreiben – anders als für ihn – eine moralische Mission war.

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Dieter Wellershoff präsentiert seinen Roman "Der Himmel ist kein Ort" am 14.10.2009 auf der 61. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main (Foto: picture alliance)
Bild: picture alliance

Wie viele Schriftsteller seiner Generation ist auch der Kölner Schriftsteller, Essayist und Lektor Dieter Wellershoff, geboren am 3. November 1925 in Neuss, nachhaltig durch die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs geprägt. Mit 17 Jahren meldete sich der Sohn eines Luftwaffen-Majors freiwillig zum Militär. Kurz darauf wurde er zum so genannten "Endkampf" an die Ostfront eingezogen, wo Wellershoff miterleben musste, wie Kameraden direkt neben ihm – manchmal nur eine Handbreit entfernt – von einer Granate zerfetzt oder erschossen wurden. Bilder, die der junge Soldate nie wieder vergessen konnte. Und die ihn dauerhaft misstrauisch gegenüber jeder Form von gesellschaftlichen Sinn-Angeboten machten: sei es nun die christliche Religion, der bürgerliche Wertekodex oder eine politische Ideologie.

Kein Gott, nirgends

Cover Schau dir das an, das ist der Krieg von Dieter Wellershoff (Foto: supposé)
Der junge Wellershoff als Kriegsfreiwilliger

Andere gleichaltrige Autorenkollegen wie Günter Grass oder Heinrich Böll leiteten aus der historischen Bürde eines verlorenen Weltkriegs und den deutschen Nazi-Verbrechen eine moralische Verpflichtung beim Bücherschreiben ab. Und wurden schon bald nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Gewissensinstanzen der jungen Bundesrepublik gefeiert, die ihre Nation regelmäßig zur ethischen Rückbesinnung aufforderten. Nicht so Dieter Wellershoff, der die Rolle des mahnenden Dichters von vornherein ablehnte. Stark beeinflusst vom betont anti-ideologischen Programm des Nouveau Roman und vom französischen Existenzialismus Sartres und Camus ist in seinen Geschichten auf die hergebrachte Werteordnung kein Verlass mehr. Wellershoffs Helden müssen sich ihren Sinn von daher stets selbst erschaffen. Und sind damit in der Regel hoffnungslos überfordert.

Totale Wahlfreiheit, totale Eigenverantwortung

Denn einerseits besitzen seine Protagonisten zwar die totale Entscheidungsfreiheit über ihr Leben. Andererseits aber müssen sie mit jeder Fehlentscheidung ganz alleine zu Recht kommen. Das führt sie unweigerlich in die Sinnkrise, in die Ehehölle, den wirtschaftlichen Bankrott und manchmal sogar bis zum Selbstmord und Wahnsinn: der Preis der Wahlfreiheit ist in allen Romanen und Erzählungen von Dieter Wellershoff immer hoch. Entsprechend kann man sein erzählerisches Werk als Verhängnis-Chronik eines westdeutschen Nachkriegs-Bürgertums lesen, mit durchaus beunruhigend exemplarischem Charakter für den Leser.

Verpasste Lebenschancen als Motiv

Cover Der Liebeswunsch von Dieter Wellershoff (Foto: btb Verlag)
Wellershoffs Erfolgsroman

Je mehr die Summe der Wahlmöglichkeiten mit zunehmendem Lebensalter schwindet, desto stärker gewinnt nämlich das Motiv der verpassten Chance in Wellershoffs Romanen an Bedeutung. So auch in seinem berühmtesten Buch Der Liebeswunsch aus dem Jahr 2000, der mit Jessica Schwarz in der Hauptrolle für das Kino verfilmt wurde. Darin geht es um die labile Germanistikstudentin Anja, die den viel älteren Richter Leonhard heiratet, um finanziell und gesellschaftlich abgesichert zu sein. Eigentlich eine gute Partie. Doch dann trifft Anja den jüngeren, ebenfalls verheirateten Chirurgen Paul, der exakt jenes andere Leben voller Leidenschaft verkörpert, das sie mit Leonhard nicht finden kann. Anja beginnt eine stürmische Liebesaffäre mit Paul und verrennt sich in den Traum einer gemeinsamen Zukunft, ohne zu bedenken, dass jede Lebensentscheidung ihren bitteren Tribut fordert – und nicht so einfach wieder rückgängig zu machen ist.

Kopf gegen Herz

Der klassisch-bürgerliche Konflikt zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen Kopf und Herz, zwischen gesellschaftlichem Anspruch und eigenem Wunschdenken spielt nicht nur im Wellershoff-Roman Der Liebeswunsch eine zentrale Rolle. Und längst nicht nur seine Heldin Anja scheitert tragisch beim Versuch, diese beiden Gegensätze erfolgreich unter den Hut zu bringen. In Die Schattengrenze (1969) ruiniert ein Autohändler durch Alkohol und eine Liebesaffäre seine Ehe und bürgerliche Existenz. Im autobiografischen Bruderdrama Blick auf einen fernen Berg (1991) endet die übersteigerte Sucht nach sozialer Anerkennung für den jüngeren Bruder in todbringender Arbeitswut. Und auch im Erzählband Das normale Leben (2005) entpuppt sich die scheinbar heile Bürger-Idylle erneut oft genug als keineswegs idyllisch, sondern müssen vor allem Ehefrauen eine gute Ehe-Partie teuer mit Einsamkeit und emotionaler Kälte des Partners bezahlen.

Der Roman als Probebühne des Lebens

Buchcover von "Innenansichten des Krieges"
"Innenansichten des Krieges"

Das Glück ist ein höchst fragiler Zustand in Wellershoffs Geschichten. Und der Kölner Autor machte nie einen Hehl daraus, dass er seine Figuren als Stellvertreterfiguren eines fiktiven Scheiterns betrachtet und seine Bücher als eine literarische "Probebühne" versteht, auf der er zumindest schreibend all jene riskanten Lebensentwürfe einmal ausprobieren kann, die er selbst aus gutem Grund in der Realität vermieden hat. "Die Literatur ist die Fortsetzung der alten Menschenopfer", lautet das Schreib-Credo Wellershoffs. "Und meine Romanfiguren sind nur moderne Sündenböcke, die dafür bestraft werden, wenn sie etwas falsch machen. So kann ich mir als Leser gefahrlos ansehen, was die Konsequenzen, was der Preis des Lebens ist."

Autorin: Gisa Funck
Redaktion: Gabriela Schaaf

Dieter Wellershoff: "Schau dir das an, das ist der Krieg". Audio-Box. Produktion: supposé 2010. 215 Minuten. 29,80 Euro.

Die Bücher von Dieter Wellershoff erscheinen im Kiepenheuer & Witsch Verlag.