Besser nicht wachsen?
7. Februar 2012Ökologisch verträglich, sozial gerecht und wirtschaftlich effizient muss Entwicklungspolitik sein, um den Ansprüchen der Nachhaltigkeit zu genügen. Diese Kriterien wurden auf dem UN-Gipfel für Entwicklung und Umwelt 1992 in Rio de Janeiro offiziell anerkannt. Das sei "ein großer Durchbruch" gewesen, erinnert sich die indische Umweltaktivistin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises, Vandana Shiva. "Es war die Grundlage für eine nachhaltige, demokratische Entwicklung hin zu einer Welt, in der es allen besser gehen würde", fasst die Physikerin und Begründerin der Umwelt- und Kleinbauernorganisation Navdanya die damalige Erwartung zusammen.
Doch heute fühlt sie sich um die Früchte dieser Hoffnung betrogen. "Die WTO hat diese Ziele untergraben", stellt Vandana Shiva fest. Die Welthandelsorganisation wurde1995 gegründet, mit dem Ziel Handelshemmnisse abzubauen und den internationalen Handel zu liberalisieren. Profitiert haben davon vor allem große Konzerne und die exportorientierten Industrienationen, deren teilweise subventionierte Produkte und Dienstleistungen in die Märkte des Südens drängen.
Abkehr vom Wachstumsglauben
Wirtschaftliches Wachstum dürfe nicht länger der alleinige Maßstab für Erfolg oder Misserfolg von Entwicklung sein, fordert Vandana Shiva. "Wachstum ist eine Einbahnstraße, auf der Geld und Ressourcen in die Hände der multinationalen Unternehmen wandern. Die Interessen der Bevölkerung bleiben dabei auf der Strecke, wie zum Beispiel bei der Patentierung von Samen oder der Privatisierung von Trinkwasser", sagt die indische Wissenschaftlerin und erinnert an den sogenannten "Wasserkrieg" von Bolivien.
Der Volksaufstand gegen die Privatisierung der Trinkwasserversorgung mündete 2005 in den Wahlsieg von Evo Morales. Unter seinem ersten indigenen Präsidenten hat Bolivien seitdem einen neuen Weg eingeschlagen: die Verfassung des Landes legt das indigene Prinzip des "guten Lebens" als Richtschnur für politische und wirtschaftliche Entscheidungen fest.
Das "gute Leben"
Nicht wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis ist das Ziel der Politik, sondern die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung und der Respekt vor der Umwelt. "Das Konzept des guten Lebens stammt von unseren Vorfahren", erläutert der bolivianische Wirtschaftswissenschaftler und derzeitige Geschäftsführer der Botschaft seines Landes in Berlin, Alfredo Candia. "Wir wollen kein Wachstum auf Kosten anderer Länder oder der Natur. Unser Ziel ist die Überwindung der Armut und die Verbesserung der Lebensbedingungen für die Bevölkerung. Die Grundlage dafür kann aber nur eine Entwicklung im Einklang mit der Natur sein." Bolivien setzt dazu unter anderem auf den Aufbau einer eigenen Industrie. Die Nationalisierung der Ölreserven führte 2006 zur Neuverhandlung der Verträge mit ausländischen Erdölunternehmen und zu einer Verdoppelung der staatlichen Einnahmen aus der Ölförderung. Das Geld fließt in den Ausbau der Infrastruktur sowie in Bildungs- und Sozialprogramme.
Für Yoke Ling Chee ist das ein Schritt in die richtige Richtung. Die Leiterin des Third World Network mit Sitz in Malaysia hält eine grundlegende Reform des Weltwirtschaftssystems für unumgänglich "damit Entwicklungsländer ihre eigene Ressourcen besser nutzen können. Die Wertschöpfung im Land muss ausgebaut werden. Es ist unsinnig, dass diese Länder ihre Rohstoffe exportieren und teure Industrieprodukte importiert müssen. Eigentlich war man sich darüber schon vor zwanzig Jahren einig", so Chee, "aber wir haben nicht dafür gesorgt, dass diese Erkenntnisse auch politisch umgesetzt wurden."
Nachhaltigkeit betrifft uns alle
Aus Sicht der EU fällt die Bilanz der Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte hingegen wesentlich positiver aus. Die EU ist einer der größten Geber von Entwicklungshilfe. Mit 50 Milliarden Euro jährlich stellt sie rund 60 Prozent der weltweiten staatlichen Entwicklungsgelder. "Es ist deutlich sichtbar, dass eine ganze Reihe von Ländern, die früher große Hilfeempfänger waren, inzwischen zu Ländern gehören, in denen durchaus mittlere Einkommen erzielt werden, die weniger abhängig sind von Hilfe und sich aus eigener Kraft weiter entwickeln können", erklärt Klaus Rudischhauser, der Leiter der Generaldirektion für Entwicklung und Zusammenarbeit der EU-Kommission. Europa sei an guten wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern interessiert, fügt er hinzu: "Unsere Wirtschaft ist globalisiert. Der Vorteil der Globalisierung ist, dass wir uns neue größere Märkte erschlossen haben, davon profitieren wir als Europäer."
Brasilien, Indien und China stehen beispielhaft für diese Entwicklung, die allerdings keinesfalls allein der Entwicklungshilfe zu verdanken ist. Doch der wachsende Wohlstand der aufstrebenden Mittelschichten in den Schwellländern stellt die Welt vor neue Probleme: "Es geht nicht darum, dass in den Entwicklungsländern derselbe verschwenderische Lebensstandard nachgeholt wird, den wir haben", warnt Rudischhauser. "Wir müssen dafür sorgen, dass in den Partnerländern nicht ein Wachstum um jeden Preis angestrebt wird sondern nachhaltiges Wachstum gefördert wird."
Erst wenn bei dem Wort Entwicklung nicht nur an Entwicklungsländer gedacht werde, könne aber wirklich etwas erreicht werden, gibt Yoke Ling Chee von Dritte Welt Netzwerk zu bedenken. "Nachhaltige Entwicklung muss auch in Deutschland und Europa stattfinden. Nachhaltigkeit betrifft uns alle. Nur wenn die, die mehr haben auch mehr investieren und so denen helfen, auf deren Kosten sie sich historisch bereichert haben, werden wir es schaffen, das Ruder herumzureißen."
Autorin: Mirjam Gehrke
Redaktion: Ulrike Mast-Kirschning