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Nach dem Verbot: Was droht der LGBTQ-Bewegung in Russland?

1. Dezember 2023

Das Oberste Gericht Russlands hat die internationale LGBTQ-Bewegung als extremistisch eingestuft. Aktivisten und Betroffene kritisieren die Entscheidung und rechnen nun mit dem Schlimmsten.

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Aktion der LGBTQ-Community in St. Petersburg im Mai 2013 mit Regenbogenfahnen
Aktion der LGBTQ-Community in St. Petersburg im Mai 2013Bild: Dmitry Lovetsky/AP Photo/picture alliance

Die internationale LGBTQ-Bewegung ist am 30. November vom Obersten Gericht Russlands auf Antrag des Justizministeriums als extremistische Organisation eingestuft worden. Da die Sitzung hinter verschlossenen Türen ablief, ist der ganze Wortlaut des Entscheids unbekannt. Experten rechnen damit, dass Menschenrechtsbewegungen und Aktivisten, die LGBTQ-Symbole verwenden, spenden oder auf andere Weise "nicht-traditionelle" Werte unterstützen, nun Verfolgung droht.

Der Schritt der Behörden, die jegliche queere Aktivitäten verbieten wollen, könnte Wladimir Putin für seinen Wahlkampf nutzen. Laut russischen Medien könnte der russische Präsident bald seine Kandidatur für eine fünfte Amtszeit bekanntgeben. Die Bewahrung "traditioneller Familienwerte" wäre ein mögliches Wahlkampfthema.

Beginnt bald die Verfolgung?

Der Entscheid des Obersten Gerichts tritt sofort in Kraft, betrifft aber vorerst nur die Aktivitäten der LGBTQ-Community. Der Teil, der die "strukturellen Organisationen" betrifft, womit alle Organisationen in Russland gemeint sein könnten, die mit dem Thema LGBTQ verbunden sind, trete am 10. Januar 2024 in Kraft, so Maxim Olenitschew, Anwalt des Menschenrechtsprojekts "Perwyj otdel" (Erste Abteilung) im Gespräch mit der DW.

Er befürchtet, gegen den Entscheid werde wohl keine Berufung eingelegt werden, da es niemanden gebe, der dies tun könnte. Es gebe keinen Angeklagten, und Aktivisten, die versuchen würden, diese Rolle einzunehmen, würden nicht zugelassen. So erging es einer Gruppe von Menschenrechtlern im November, die eine Bewegung mit dem Namen "Internationale gesellschaftliche LGBT-Bewegung" angemeldet hatte. Ihre Beschwerde gegen den Antrag des Justizministeriums beim Obersten Gericht wurde einfach ignoriert.

Demonstration gegen das in Russland 2013 verabschiedete Gesetz über "Gay-Propaganda". Die Aktivisten in Madrid protestieren mit dem Portrait eines geschminkten Putin und einer Regenbogenfahne
Gegen das von Wladimir Putin unterzeichnete Gesetz über "Gay-Propaganda" gab es weltweit Proteste. Eine Demonstration in Madrid, 2013Bild: Rodrigo Garcia/ZUMAPRESS.com/picture alliance

Olenitschew kritisiert, dass die Sitzung des Obersten Gerichts nicht öffentlich war und der Wortlaut des Entscheids nicht veröffentlicht wurde. "Der Staat will verhindern, dass sich die Menschen vorbereiten und herausfinden, ob ihre Aktivitäten verboten sind oder nicht", so der Experte. Daher müssten Betroffene mit der Höchststrafe rechnen, die längst für extremistische Organisationen vorgesehen ist - eine Freiheitsstrafe von bis zu 12 Jahren.

Demnach können auch Aktivisten zur Verantwortung gezogen werden. So wird das Zeigen verbotener Symbole beim ersten Mal mit einer Geldstrafe von 1000 bis 2000 Rubel (umgerechnet rund zehn bis 20 Euro) oder einer Verwaltungshaft von bis zu 15 Tagen geahndet. Beim zweiten Mal droht bereits eine Haft von bis zu vier Jahren oder eine Geldstrafe von 600.000 bis 1 Million Rubel (umgerechnet rund 6000 bis 10.000 Euro). "Was jetzt unter die verbotenen Symbole fällt, das müsste in dem Gerichtsentscheid stehen. Daher ist noch unklar, ob die Regenbogenfahne untersagt ist oder nicht", so Olenitschew.

Sicherheit nur im Ausland

Viele LGBTQ-Aktivisten haben Russland längst verlassen, darunter auch Mitarbeiter von "Zentr T", einer Initiativgruppe, die Transgender-Menschen in Russland unterstützt. Doch einige ihrer Aktivisten, die ihre Arbeit nicht online ausüben können, sind weiterhin in Russland. Das berichtet der Leiter und Gründer von "Zentr T", Jan Dworkin und betont: "Es handelt sich um Nothilfe, zum Beispiel um Notunterkünfte für Menschen, die wegen ihrer Identität oder Orientierung verfolgt werden oder von Zuhause rausgeworfen wurden. Aus Sicherheitsgründen werden wir nun für solche Dienste nicht mehr werben." Treffen von Community-Mitgliedern sowie mit Psychologen würden aber weiterhin online stattfinden, sagt Dworkin, der ebenfalls Russland verlassen hat: "Wahrscheinlich werden wir unsere Konferenzen ohne Videoschalte und nur mit gut überprüften Teilnehmern abhalten."

Eine russische LGBTQ-Familie mit Regenbogenfahne, die nach Spanien geflüchtet ist
Eine russische LGBTQ-Familie, die nach Spanien geflüchtet istBild: Privat

Auch die Mitglieder des Teams "Sfera", das sich seit 2011 für LGBTQ-Rechte in Russland einsetzt, wägen nun ihre Risiken ab. Die Leiterin des Projekts "Rechtshilfe", Jekaterina Dikowskaja, sagt im Gespräch mit der DW, dass der Großteil ihrer Arbeit in einem sicheren Online-Format stattfinde und ihr Team sich zum Teil im Ausland aufhalte. Aber viele Menschen in Russland sind ihr zufolge in Gefahr - wer an queere Organisationen spendet und Kanäle entsprechender Netzwerke oder Blogger abonniert. "Es besteht die Gefahr von Strafverfahren gegen Mitglieder unseres Teams und Menschen, die mit ihnen zusammenarbeiten, aber auch gegen unsere Spender", sagt sie.

Die Fotografin Rosa aus Wyborg, die sich als queer versteht, hat sich hingegen entschieden, in Russland zu bleiben. Sie verfolgt genau alle Erläuterungen von Anwälten in den sozialen Netzwerken, um nicht in Panik zu geraten und die Gefahr neuer Repressionen einzuschätzen. "Noch weiß ich nicht, wie ich andere schützen kann, denn ich veröffentliche Geschichten über LGBT-Personen in ausländischen Medien. Im Moment ist unklar, ob man ihre Gesichter auf Fotos doch retuschieren sollte", sagt sie.

Auftakt von Putins Wahlkampf?

Die Verfolgung von LGBTQ-Personen in Russland läuft mindestens seit 2013, als Putin ein Gesetz unterzeichnete, das "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" unter Minderjährigen verbietet. Das nächste repressive Gesetz wurde 2022 verabschiedet und verbot die Verbreitung jeglicher Materialien, die nach Ansicht der russischen Behörden "nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen fördern". Dies zwang viele Verlage, Buchhandlungen, Bibliotheken und Online-Kinos, unter Androhung von Geldstrafen jegliche Erwähnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen zu entfernen.

Der Leiter der russischen "Anti-Korruptions-Stiftung" (FBK) von Alexej Nawalny, der Oppositionelle Iwan Schdanow, schrieb auf Telegram, der Entscheid des Obersten Gerichts könnte der Auftakt von Putins Wahlkampf sein. Damit wolle die Staatsmacht die Öffentlichkeit von wahren Problemen ablenken und angesichts einer zunehmenden Isolation des Landes "mythische Feinde schaffen und die Bevölkerung aus verschiedenen Gründen diskriminieren".

Der Kreml verfolge das Verfahren nicht, bei dem das Justizministerium fordere, die internationale LGBTQ-Bewegung als extremistisch einzustufen, hatte Dmitrij Peskow, Sprecher des russischen Präsidenten, im Vorfeld des Entscheides erklärt. Auch Wladimir Putin äußerte sich mehrmals über die LGBTQ-Bewegung. Im November sagte er beim St. Petersburger Kulturforum, LGBTQ-Menschen seien "auch Teil der Gesellschaft". Und im Februar sagte er in einer Rede vor der Föderalen Versammlung des Landes, dass "niemand in die Privatsphäre von LGBTQ-Menschen eingreift". Doch er fügte hinzu, dass in den "heiligen Schriften" stehe, dass eine Familie eine Vereinigung von Mann und Frau sei.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk