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„Na klar, alles normal hier!“

3. Januar 2003

Der Ölstreik in Venezuela dauert nun schon einen Monat, ein Ende ist nicht abzusehen. Wie arrangieren sich die Venezolaner mit der Krise? Woher bekommen sie ihr Öl? Eine Reportage.

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Umsonst gewartet: Kein Sprit an der TankstelleBild: AP

Es ist leise geworden in Caracas - kein Hupen ist zu hören, kaum Motorengeräusche. Nur vereinzelt brummt noch ein Auto durch die Straßen oder knattert ein Motorrad durch die Gassen. Während in normalen Zeiten schon am frühen Morgen der dichte Berufsverkehr durch die Vier-Millionen-Einwohner-Metropole dröhnt, liegt seit mehr als drei Wochen Stille über der venezolanischen Hauptstadt: Den Autofahrern ist schlichtweg das Benzin ausgegangen. Seit dem 2. Dezember hat die Opposition die sonst so sprudelnde Ölindustrie fast komplett lahmgelegt, weil sie den ihr verhassten linkspopulistischen Präsidenten Hugo Chávez aus dem Amt zwingen will. Für die Bevölkerung bedeutet das einen mühsamen Alltag, der nur mit viel Gewieftheit und einer Engelsgeduld zu bewältigen ist.

Nur Straßenhändler machen gute Geschäfte

Henry Arraya allerdings ist mit seinen Nerven am Ende. Seit drei Uhr nachts wartet der 40-Jährige schon mit seinem Wagen vor einer der wenigen Tankstellen in Caracas, die noch hin und wieder beliefert werden. Mittlerweile steht die Mittagssonne hoch am Himmel, und wann die Tanklaster mit dem ersehnten Nachschub endlich kommen werden, ist immer noch nicht klar. Für Präsident Chavez und seine immer neuen Beteuerungen, die Lage sei auf dem Wege zur Normalisierung, hat Arraya nur noch Verachtung übrig: "Na klar, das ist ganz normal, alles normal hier", spottet er und deutet auf die Autoschlange, die sich über Kilometer hinzieht. Nebenan haben einige Wartende Dominosteine ausgepackt, und andere plappern unermüdlich in ihr Handy. Nur die Straßenhändler sind glücklich, weil sie mit dem Verkauf von Wasserflaschen ein Riesengeschäft machen.

"Wer den Streik unterstützt, sollte hier nicht mehr herkommen und seine Kanister auffüllen", wettert eine Frau, die für das Taxi ihres Mannes Benzin auffüllen will, gegen die Opposition. "Die brauchen das nicht, die streiken doch." Caracas hat 252 Tankstellen, offen sind mittlerweile jeweils nur noch acht bis zehn pro Tag. Wer sein Auto nicht unbedingt braucht, verzichtet auf den Wagen. Doch andere harren bis zu 18 Stunden vor den Zapfsäulen aus. "Der Trick ist, schon am Morgen zu wissen, welche Tankstellen offen haben, und dann muss man sich mit Geduld wappnen", erzählt Taxifahrer Alvaro über seinen neuen Arbeitsalltag. Mal warte er sieben Stunden, am nächsten Tag seien es "nur noch drei".

Tanktipps aus der Zeitung

Die Hauptstadtzeitung "El Universal" beliefert ihre Leser neuerdings mit wertvollen Tanktipps: "Ein Tanksäule hat Benzin für 400 Autos", rechnet das Blatt vor. Sich hinter einer Warteschlange anzustellen, die bereits länger als eineinhalb Kilometer ist, lohne also nur dann, wenn die Tankstelle mehrere Zapfsäulen habe, warnt die Redaktion. Für die Wartezeit sollten die Fahrer immer genügend Wasser und Essen dabei haben. "Den Adapter nicht vergessen, um das Handy aufzuladen!", und auf keinen Fall die Kinder oder ältere Menschen mitnehmen, denen die drückende Sommerhitze in den Autos gefährlich werden könnte, mahnt die Zeitung.

Wer es sich leisten kann, verzichtet gerne auf die Tortur vor der Tankstelle. "Auf dem Schwarzmarkt findet sich ganz leicht Benzin", berichtet eine Belgierin, die seit 20 Jahren in Venezuela lebt. Die Preise des vor allem aus Kolumbien eingeschmuggelten Treibstoffs liegen allerdings um das 20-fache über dem Preis an der Zapfsäule. Nicht jeder hat dafür genug Geld in der Tasche. Besser ist es da, jemanden beim Militär, bei der Polizei oder einer anderen staatlichen Einrichtung zu kennen, deren Fuhrpark weiter mit Benzin versorgt wird und aus dem sich illegal der eine oder andere Liter abzapfen lässt.

Holzfeuer statt Gas

Doch nicht nur Benzin ist knapp geworden. Auch für Gaskartuschen müssen sich die Venezolaner inzwischen stundenlang die Beine in den Bauch stehen. Vor allem die kleinen Schnellrestaurants in den Arbeitervierteln müssen sich anders behelfen. "Gas gibt es nicht mehr, Kohle ist zu teuer, also koche ich über einem Holzfeuer", berichtet Hot-Dog-Verkäufer Rafael Martinez mit vom Rauch geröteten Augen. Auch Bier könne er nicht mehr verkaufen. Die mexikanischen Importmarken seien schon genauso teuer wie Benzin. (afp)