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Mystik und Aberglaube

Stephan Hille15. Februar 2005

Versteh' einer die Russen. Dabei geht das gar nicht, denn wie sagte schon der Dichter Tjutschew: "… an Russland muss man einfach glauben." Nun ist Glauben zwar gut, allerdings kommt auch noch der Aberglaube hinzu.

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Schwer zu sagen, was für die Russen wichtiger ist. Jedenfalls ist bei fast allen Russen tief in der russischen Seele eine gewisse Neigung zu Aberglauben und Mystik verwurzelt. Während man im Westen allenfalls Freitag, den 13. oder auch schwarze Katzen fürchtet, kann in Russland auch Meister Lampe Unglück bringen. Wenn ein Hase im Feld stehen bleibt und einem (vor Angst) den Weg versperrt, so ist ein Unglück nicht weit, sagt der russische Volksmund.

Die erste Grundregel im russischen Aberglauben lernen Ausländer meist sehr schnell, nämlich dann, wenn sie ihrem Gegenüber über die Türschwelle hinweg die Hand geben wollen und der Gegenüber leichenblass die Hand erschrocken zurückzieht. Denn nach russischem Verständnis fordert man das Schicksal geradezu heraus, wenn man sich über der Türschwelle die Hand reicht.

Pfeifen macht arm …

Fast alle Grundsätze im russischen Aberglauben drehen sich darum, dass gewisse Tätigkeiten den unmittelbaren Verlust von Barem nach sich ziehen, beziehungsweise dazu führen, dass man auf ewige Zeiten ohne Geld sein wird. Pfeifen in geschlossenen Räumen, zum Beispiel, soll der sichere Garant für bittere Armut sein. Zwar hat sich diese Kausalkette im Praxis-Selbst-Versuch nicht bewahrheitet, doch wird man kaum einen Russen finden, der es wagen würde, in der eigenen Wohnung eine Melodie zu pfeifen.

Hat jemand bei einem anderen eine Schuld und will diese zurückzahlen, so darf das Geld keinesfalls von einer Hand in die andere überreicht werden, sondern muss an einem neutralen Platz, etwa auf dem Tisch abgelegt werden. Hat man die eigene Wohnung verlassen, aber etwas vergessen und muss zurückkehren, so muss man vor dem erneuten Verlassen der Wohnung unbedingt in den Spiegel schauen, wenn man kein Unglück hinauf beschwören will.

… und wer verreist, sollte gesessen haben

Einer der schönsten Bräuche in Russland ist, dass sich vor einer langen Reise alle noch einmal kurz hinsetzen und in sich kehren, erst danach darf man aufbrechen - denn durch das kurze Sitzen hat man - so der Aberglaube - dem Schicksal wiederum ein Schnippchen geschlagen.

Unter Bezug auf das russische Brauchtum und in Anlehnung an dem im Gefängnis sitzenden Oligarchen Michail Chodorkowskij erzählt man sich in Russland inzwischen folgenden Witz: Ein schwerreicher Oligarch, der beim Kreml in Ungnade gefallen ist und deshalb ins Exil gehen will, wird noch einmal in den Kreml zitiert. Der Oligarch will sich verabschieden, worauf der Kreml-Chef sagt: "Wie, Sie wollen abreisen, ohne gesessen zu haben …?"