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"Moralische Wende"

8. April 2003

- Historisches Archiv der Staatssicherheitsdienste dokumentiert Ungarns Stasi-Vergangenheit

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Budapest, 7.4.2003, BUDAPESTER ZEITUNG, deutsch, Dénes Vajta

Parlamentspräsidentin Katalin Szili hat den Historiker György Gyarmati zum Leiter eines neuen Instituts ernannt, das erstmals alle Stasi-Dokumente Ungarns archivieren soll. Szili erklärte, dass damit wenige Tage vor dem EU-Referendum am 12. April auch eine "moralische Wende" vollzogen worden sei. SZDSZ (Bund Freier Demokraten - MD)-nahe Intellektuelle sind jedoch weder mit der Person des Archivdirektors noch mit der Arbeitsweise des Instituts zufrieden. Sie kritisieren zudem das kürzlich beschlossene "Spitzelgesetz".

Als im vergangenen Sommer wegen der vermeintlichen Stasi-Vergangenheit von Premier Péter Medgyessy ein Skandal losbrach, beschlossen die Koalitionsparteien auf Initiative des SZDSZ, endlich reinen Tisch zu machen und die Stasidokumente öffentlich zugänglich zu machen. Sie einigten sich außerdem auf einen neuen Gesetzesvorschlag zur Modifizierung des bestehenden Spitzelgesetzes. Während letzteres weiterhin auf der politischen Tagesordnung steht, nahm das Parlament das Gesetz über die Errichtung eines neuen Instituts an, des Historischen Archivs der Staatssicherheitdienste (ÁSZTL).

Das neue Institut ist dazu bestimmt, die früher an verschiedenen Orten gelagerten Dokumente zu vereinigen und Forschern sowie Opfern Einblick zu gewähren - ähnlich der deutschen Gauck-Behörde. Es sollen nicht nur die Dokumente der Abteilung der Inneren Abwehr (III/III.), sondern auch jene der Nachrichtenbeschaffung (III/I.), der Spionageabwehr (III/II.), der militärischen Abwehr (III/IV.) und der so genannten Fachabteilung (III/V.) zugänglich werden.

Ein dreiköpfiger Ausschuss entscheidet dabei, welche Dokumente von wem eingesehen werden dürfen. Entgegen einer Vereinbarung zwischen den Koalitionsparteien bekamen jedoch diese Posten nicht SZDSZ-nahe Experten, sondern von der MSZP (Ungarische Sozialistische Partei - MD) vorgeschlagene Personen. Der SZDSZ-Abgeordnete Imre Mécs, Vorsitzender des ehemaligen Ausschusses zur Untersuchung der Stasi-Vergangenheit der Politiker seit der Wende, schlug sogar eine parlamentarische Überprüfung der Nominierung der Ausschussmitglieder vor, was jedoch von seiner Partei mit knapper Mehrheit abgelehnt wurde.

Unabhängige Intellektuelle kritisierten die Ernennung Gyarmatis als Leiter der Einrichtung. János M. Rainer, Direktor des Institutes der Revolution von 1956, meinte, dass mit Gyarmati eine Person an die Spitze des ÁSZTL gelangt sei, dessen Auffassung den Interessen des an der Geheimhaltung interessierten Apparates näher stehe als jenen von Zivilpersonen. Dem Archivar László Varga zufolge wollte die Regierung der Erforschung der Vergangenheit einen Riegel vorschieben, mit dem Einverständnis der Opposition.

Die ursprüngliche Absicht, alle Geheimdossiers zugänglich zu machen, sei Lichtjahre von dem beschlossenen Gesetz entfernt, monierte auch János Kenedi, oppositioneller Intellektueller der Kádár-Ära. Der Staatssekretär im Amt für Nationale Sicherheit, András Tóth, begründete dies damit, dass es Geheimnisse gebe, die selbst nach Jahrzehnten noch aktuell seien. Befürworter des Gesetzes weisen darauf hin, dass man ein Gericht anrufen könne, wenn die Ausschussmitglieder die Einsicht verweigerten.

Für besonders problematisch halten Kritiker die als geheim eingestuften Dossiers, die sich auf Personen beziehen, die zwischen dem 15. Februar 1990 und dem 26. Mai 2002 beim Geheimdienst oder mit ihm kooperiert haben, zumal die meisten Mitarbeiter die selben sind wie heute. Als Folge des misslungenen Gesetzes können also jederzeit kompromittierende Materialien aus den geheim gehaltenen Dossiers hervorgeholt werden. Neue Politskandale scheinen damit vorprogrammiert. (fp)