1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Proteste gegen die Regierung in Montenegro

Nemanja Rujevic23. Oktober 2015

Tausende Menschen in Montenegro verlangen den Rücktritt von Premier Đukanović, protestieren gegen einen Nato-Beitritt und gegen Korruption. Der Regierungschef weist die Kritik von sich und vermutet eine Verschwörung.

https://p.dw.com/p/1Gt40
Milo Djukanovic Premierminister Montenegro (Foto: EPA/BORIS PEJOVIC)
Bild: picture-alliance/dpa

Kein europäischer Politiker regiert länger als Milo Đukanović – nicht einmal der weißrussische Machthaber Lukaschenko. Mit Ausnahme von zwei kurzen Unterbrechungen ist Đukanović seit 1991 entweder Premier oder Präsident des kleinen Adrialandes mit seinen 600.000 Einwohnern. Dabei war der starke Mann Montenegros immer das, was der jeweilige Zeitgeist verlangte: junger kommunistischer Funktionär, Weggefährte des nationalistischen Autokraten Slobodan Milošević, Ideologe der Abspaltung seines Landes von Serbien und schließlich Partner des Westens, der sein Land in die Europäische Union und in die Nato führen will.

Gegner aus allen Schichten

Bei seinem jüngsten Besuch lobte der Bündnis-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Fortschritte Montenegros und sagte, bis zum Ende des Jahres solle nun feststehen, ob die Nato grünes Licht für eine Mitgliedschaft gebe. Experten halten das für sicher. Weniger sicher aber ist, ob die Regierung dafür die Unterstützung ihrer Bevölkerung hat. Meinungsumfragen sehen abwechselnd Befürworter oder Gegner knapp vorne – je nachdem, wer die Umfrage geführt oder beauftragt hat. "Ein Teil der Gegner erklärt ihre Ablehnung mit der Nato-Intervention gegen Serbien und Montenegro von 1999", sagt Milica Kovačević vom Zentrum für Demokratische Transition. Doch sie meint, immer mehr Bürger denken "rational" über das Militärbündnis.

Nicht zuletzt wegen der Nato-Frage hatten hunderte Oppositionelle wochenlang in einem Zeltlager im Regierungsquartier der Hauptstadt Podgorica ausgeharrt. Sie forderten den Rücktritt von Đukanović, eine Übergangsregierung und Neuwahlen. Es war eine bunte Mischung von Demonstranten: Unterstützer des Oppositionsbündnisses Demokratische Front, Vertreter der Zivilgesellschaft sowie serbisch-orthodoxe Kleriker, die die Abwendung Montenegros von Belgrad ablehnen. Am vergangenen Wochenende eskalierte die Lage dann, als die Polizei das Zeltlager räumte – es gab zahlreiche Verletzte und Verhaftete. Für Samstag (24. Oktober) bereiten Regierungsgegner eine große Demonstration vor: "Ganz Montenegro wird nach Podgorica kommen", kündigt die Demokratischen Front an.

Montenegro Proteste (AP Photo/Risto Bozovic)
Demonstranten mit Steinen, Polizei mit TränengasBild: picture-alliance/AP Photo

Auch Marko Milačić wird an den Protesten teilnehmen. Der Frontmann der Bewegung für Neutralität – eine Nichtregierungsorganisation, die gegen den NATO-Beitritt ist – sagt, das System Đukanović überlebe nur durch künstlich gestiftete Spaltungen. Mit Blick auf die - mit Ausnahme einiger weniger Medienhäuser - gleichgeschaltete Medienlandschaft, beklagt Milačić: "Jetzt wird alles deutlicher sichtbar, denn die Entscheidung nähert sich, ob Montenegro die Einladung für die Nato-Mitgliedschaft bekommt oder nicht. Das Regime und die von ihm kontrollierten Medien sind deswegen bemüht, die Öffentlichkeit von den angeblichen Vorteilen der Nato zu überzeugen."

Aufstand gegen Misere

Der Regierungschef Đukanović selbst vermutet "großserbische" und kirchlichen Kreise als Strippenzieher der Proteste. Das eigentliche Ziel der Opposition sei eine undemokratische Machtübernahme, das Verhindern einer Anbindung des Landes an den Westen sowie die Annullierung der montenegrinischen Unabhängigkeit, sagte er in einem Fernsehinterview. Die Organisatoren des Widerstands genössen auch die Unterstützung des Kremls – weil Russland, so Đukanović weiter, die Stärkung der Nato auf dem Balkan unterbinden wolle.

Mit solchen Deutungen mache sich Đukanović die Sache viel zu einfach, bemängeln Kritiker. Denn nicht die geopolitische Orientierung des Landes sehen die meisten Bürger als Hauptproblem, sondern vor allem die wirtschaftliche Misere, Korruption und die Verteilung von Jobs im öffentlichem Dienst durch die Gnade der regierenden Demokratischen Partei der Sozialisten. Das Durchschnittsgehalt beträgt etwa 480 Euro und etwa 15 Prozent der Bürger sind ohne Arbeit laut der offiziellen Statistik, die nicht wenige noch für geschönt halten. Die eingerosteten Fabriken etwa im bergigen Norden des Landes zeugen von der kriminellen Privatisierung während der sogenannten "Transition" zum Kapitalismus.

Jahrelang lässt Đukanović die Kritik abprallen – sogar die Vorwürfe der italienischen Staatsanwaltschaft, die ihn persönlich als Patron des Zigarettenschmuggels in den neunziger Jahren bezeichnete. Auch die EU bemängelte den Zustand des Rechtstaats sowie eine Vielzahl nie geklärter Übergriffe gegen kritische Journalisten.

Gespaltene Gesellschaft

Eine Reihe von Affären, Arroganz und "dreckige Dieberei" hätten die Regierung geschwächt, meint auch der bekannte montenegrinische Schriftsteller Andrej Nikolaidis. Die aktuellen Proteste aber sieht er ähnlich wie Đukanović – als bloßen Versuch, die Nato-Mitgliedschaft zu torpedieren. "Der Nato-Beitritt würde den Austritt aus der serbischen und russischen Einflusssphäre bedeuten. Das wäre eine radikale zivilisatorische, politische und kulturelle Umkehr", schreibt Nikolaidis in einem Kommentar für ein regionales Onlineportal.

Montenegro Proteste gegen Regierung in Podgorica (Foto: Savo Prelevic /DW)
So sahen die Proteste aus: auch die serbische Flagge ist dabeiBild: DW/S. Prelevic

Der Kolumnist Blagoje Grahovac sieht das anders. Der frühere General meint, die Proteste könne man nicht auf das Nato-Dilemma reduzieren. Sein Fazit fällt düster aus: "Für die Mehrheit der Bürger ist Milo Đukanović ein Symbol des völligen Untergangs. Für einen anderen Teil ist er ein Symbol des völligen Erfolgs, ihre Hoffnung und ihr Stolz. Montenegro ist gefangen zwischen zwei extremen Gruppen: für oder gegen Milo Đukanović. Die Bürger sind heftig zerstritten", schrieb Grahovac in der regimekritischen Zeitung "Vijesti".

Dass am Ende diese gespaltene Bürgerschaft das Wort bekommt, gilt als unwahrscheinlich. Vorgezogene Neuwahlen werde es nicht geben, erklärte Đukanović und nutzte die Gelegenheit, über die Opposition zu spotten, die ihn "seit einem Vierteljahrhundert" nicht besiegen könne. Auch ein Referendum über eine Nato-Mitgliedschaft hält der montenegrinische Machthaber für völlig unnötig.