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Einstürzende Neubauten

2. Juni 2009

20 Jahre nach dem Mauerfall kommt ein Dokumentarfilm über eines der legendärsten Konzerte der Wendezeit in die Kinos: die Band "Einstürzende Neubauten" live im VEB Elektrokohle.

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Die Mitglieder der Band Einstürzende Neubauten (Foto: Band)
Ungewöhnlicher Name für eine ungewöhnliche Band: Einstürzende NeubautenBild: Einstürzende Neubauten

In diesem Jahr dreht sich Vieles um das 20jährige Jubiläum des Mauerfalls: Reden werden gehalten, Ausstellungen eröffnet, Talkshows geführt. Dann gibt es natürlich auch diverse TV-Filme und Dokumentationen. Eine der ungewöhnlichsten Geschichten der unmittelbaren Wendezeit aber kommt jetzt ins Kino. Es ist der Dokumentarfilm "Elektrokohle" von dem Berliner Regisseur Uli Schüppel.

Erstes Konzert im Osten

Der machte sich am 21. Dezember 1989 gemeinsam mit den Musikern der Kultband "Einstürzende Neubauten" auf den Weg von West-Berlin nach Ost-Berlin, zum ersten Konzert der Band in der DDR. Die zumeist in West-Berlin aufgewachsenen Musiker hatten zuvor nie die Genehmigung erhalten, im sozialistischen deutschen Arbeiter- und Bauernstaat aufzutreten. Aber jetzt stand mit der Unterstützung des Ost-Berliner Dramatikers Heiner Müller einem Auftritt nichts mehr im Wege.

...noch stand die Mauer

Dennoch war es auch an diesem Tag ein langer, beschwerlicher Weg von Kreuzberg im Westen Berlins nach Lichtenberg im Ostteil der Stadt in den Wilhelm-Pieck-Saal des VEB (Volkseigener Betrieb) Elektrokohle. Noch stand die Mauer und noch gab es Grenzkontrollen. Aber nicht nur Blixa Bargeld und Co. hatten einen langen Weg. Auch viele Zuschauer mussten weite, zum Teil illegale Wege gehen, bevor sie zum Konzert kamen.

Im Sog der Kultband

Mit welchen Gedanken waren die Konzertbesucher damals unterwegs? Rund ein Dutzend von ihnen hat Uli Schüppel mit der Kamera auf den Weg zum Konzertort begleitet, den sie vor 20 Jahren einschlugen. Dabei schildern sie ihre damaligen Eindrücke: ein Musikfan, der täglich von der Stasi abgehört wird; ein anderer, ein Wehrdienstleistender, entfernt sich illegal von seiner Kaserne im äußersten Südosten der DDR, um nach Berlin zu fahren; und eine aus der DDR einst freigekaufte Dissidentin, die in West-Berlin lebt, hat Angst nach Ost-Berlin zu gehen, weil sie anschließend vielleicht doch nicht wieder zurück darf.

Checkpoint Charlie (Foto: picture alliance)
Im Dezember 1989 noch in Betrieb: der Grenzübergang Checkpoint CharlieBild: picture-alliance / akg-images

Konzert vor ungewöhnlicher Kulisse

Doch sie alle machen sich auf zum legendären Konzert der "Einstürzenden Neubauten" in den Bezirk Lichtenberg, dort, wo kulturell sonst nie etwas passiert. So erinnert sich eine Zeitzeugin: "Das ist ja ziemlich weit draußen da, Herzbergstraße, fast schon in Marzahn. In der Straße gab es nichts außer einer Heilanstalt, eine Nervenklinik, glaube ich. Darüber haben wir uns dann lustig gemacht: Jetzt kommen die 'Einstürzenden Neubauten' nach Ost-Berlin und spielen gleich bei den komplett Irren."

Musik mit Sprengwirkung

Die Einstürzenden Neubauten vor der Mauer in Berlin (Foto: Uli Schüppel)
Auf dem Weg von West nach Ost: Einstürzende Neubauten im Dezember 1989Bild: Uli M. Schüppel / Neue Visionen Filmverleih

Natürlich ist es vor allem die Musik der Einstürzenden Neubauten, die sie anzieht, bei der es kaum Rhythmen gibt, die eher einer harten, experimentellen Klangcollage ähnelt. Alles ziemlich improvisiert, scheinbar ohne Struktur, Musik, die auch etwas Zerstörerisches hat. Das zieht die jungen Leute an. Und es passt in die Zeit des Mauerfalls.

Atmosphärisches Zeitdokument

Auch für die "Einstürzenden Neubauten" ist es ein ungewöhnlicher Tag. Erstmals dürfen die Stars aus dem West-Berliner Musikunderground in der DDR auftreten. Hatte man sie sonst in dem sozialistischem Staat nicht spielen lassen, fahren sie nun in West-Berlin am Axel-Springer-Haus vorbei und kommen mit einer Sondergenehmigung über den Checkpoint Charly nach Ost-Berlin. Dabei hat Frontmann Blixa Bargeld noch nicht einmal einen Ausweis dabei, sondern nur eine Ausweisverlustbescheinigung.

Prominente Konzertgäste

Aber in dieser Zeit ist ohnehin alles anders, und die Ereignisse überschlagen sich: die Stasi-Zentrale wird gestürmt, Wandlitz, das abgeschottete Wohngebiet der obersten Staatsvertreter, wird aufgemacht, und der französische Präsident Mitterand kommt mit seiner Regierung zum Staatsbesuch nach Ost-Berlin. Mit dabei ist auch der Kulturminister Jack Lang. Als der ebenfalls eingeladene Dramatiker Heiner Müller sich von dem Besuch wegen des Konzerts verabschiedet, begleitet Lang ihn spontan.

Heiner Müller auf der Bühne

In drei weißen Staatskarossen fahren sie vorbei an Plattenbausiedlungen in die Einöde. Im VEB Elektrokohle angekommen, tritt Heiner Müller vor das Mikrophon: "Wir feiern heute Geburtstag. Der erste Geburtstag ist der Geburtstag von Josef Stalin." Woraufhin ein gellendes Pfeifkonzert einsetzt. Müller weiter: "Die Neubauten, die er uns beschert hat, stürzen jetzt ein." Tosender Beifall ertönt. Später dann taucht er noch einmal mit Jack Lang und dessen Truppe (alle in feinen Anzügen um mit weißen Seidenschals) hinter der Bühne bei den "Neubauten" auf. Eine skurrile Nummer.

Gefühl für die Wendezeit

Feiernde Menschen auf der Berliner Mauer 1989 (Foto: AP)
Aufregend und voller Möglichkeiten: der deutsche Spätherbst 1989Bild: AP

Trotz einiger Längen hält der Film "Elektrokohle" sehr präzise die Atmosphäre fest, die damals herrschte. In der Noch-Mauerstadt gab es tatsächlich eine kurze Epoche, wo alles möglich erschien. Der Regisseur fängt diese fast surreale Aufbruchstimmung ebenso ein wie das Gefühl, dass all dies nur eine Momentaufnahme im Laufe der Zeit sein wird.

Deutsch-deutscher Kulturschock

Wie groß die Kluft zwischen Ost und West damals war, hat Uli Schüppel in einer Szene dokumentiert: "Das war eigentlich ein Kulturschock von beiden Seiten. Eine Unsicherheit sowohl von uns aus West-Berlin, genau so wie für die Ost-Berliner. Ich habe eine Szene in dem Film gelassen, um zu zeigen wie ungut ich mich da eigentlich gefühlt habe oder wie unwissend oder naiv wir aus West-Berlin waren", erinnert sich der Regisseur. "Der Saal im VEB Elektrokohle trug nämlich den Namen „Wilhelm Pieck“, so hieß der Mitbegründer der SED. Und ich drehe mich mit der Kamera um und frage jemanden, der hinter mir steht: 'Wer war Wilhelm Pieck?' Eine völlig unmögliche Frage. Und dann sagt jemand anders: 'Na du kommst ja auch aus Australien!' Und dann habe ich gedacht: 'Ja, ich könnte auch aus Australien kommen.' Denn West-Berlin war so weit weg.“

Autor: Bernd Sobolla

Redaktion: Klaus Gehrke