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Interkulturelle Kompetenz hautnah

12. Oktober 2009

Mit dem entwicklungspolitischen Freiwilligendienst "weltwärts" können junge Menschen in Projekten rund um die ganze Welt arbeiten. Die ersten Freiwillige reisten 2008 aus und sind mittlerweile zurück. Ein Porträt.

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Foto: Marie Lessing, Deutsch-Indische Zusammenarbeit e.V.
Für Marie war ihre Zeit in Indien nur der Auftakt für ihr EngagementBild: Marie Lessing

Über 4000 deutsche Freiwillige sind bereits ausgeschwärmt, seit das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Anfang 2008 den Startschuss für den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst "weltwärts" gegeben hat. Zielgruppe sind Abiturienten, Studenten und junge Berufstätige zwischen 18 und 28 Jahren, ihr Reiseziel waren Projekte in bisher 78 Entwicklungsländern. Manche der Pioniere blieben für sechs Monate, manche für zwei Jahre. An die 2000 "weltwärts"-Gänger sind mittlerweile zurück in Deutschland und für viele von ihnen war der letzte Tag ihres Freiwilligendienstes nur der Anfang eines neuen Engagements – und zwar als Rückkehrer. Das BMZ stellt ihnen seit diesem Herbst über das Projekt "weltwärts und danach" eine Million Euro an Fördermitteln für besondere Initiativen und Projekte zur Verfügung.

Ständig neue Ideen

Foto: Marie Lessing, Deutsch-Indische Zusammenarbeit e.V.
Projekte mit Kindern sind bei vielen Freiwilligen besonders beliebtBild: Marie Lessing

Marie Lessing ist eine dieser unermüdlichen Rückkehrer. Die angehende Lehrerin aus Berlin war für sechs Monate als Freiwillige in Nagpur, einer Millionenstadt in Indien. Ihre Arbeit im Partnerverein Ecumenical Sangam bestand zu einem Großteil daraus, Konzepte und Anträge zu schreiben, Geldmittel zu beantragen und immer auf der Suche zu sein nach neuen Betätigungsfeldern für den Verein. "Ich hab eigentlich den ganzen Tag am Computer gesessen, aber es war irgendwie inspirierende Büroarbeit", erinnert sich die Studentin lachend. Ständig sei irgendjemand vorbeigekommen mit einer neuen Idee. Und obwohl in Indien vieles schwierig sei, gebe es manchmal eben auch Dinge, die viel leichter von der Hand gehen: "Eine andere Freiwillige hatte die Idee, in ihrem Dorf eine Bibliothek zu eröffnen und dann hat sie dort die Leute gefunden und innerhalb von zwei, drei Monaten war diese Bibliothek da mit indischer Unterstützung gebaut worden."

Mehr als nur ein neues Hobby

Foto: Marie Lessing, Deutsch-Indische Zusammenarbeit e.V.
Mit einem Mikrokredit können sich die Nähschülerinnen selbstständig machenBild: Marie Lessing

Und weil es ihr so viel Spaß gemacht hat, hat Marie nun einen eigenen Verein gegründet hat: die Deutsch-Indische Zusammenarbeit Berlin e.V. Mittlerweile bekommt Marie auch Zuschüsse vom BMZ. Eine der Säulen ist eine entwicklungspolitische Arbeitsgemeinschaft in einer Berliner Schule, in der es auch um "weltwärts" geht. "Ich suche mit den Schülern nach Ländern und Projekten, die sie interessieren und helfe ihnen dann bei der Bewerbung", erklärt Marie. Außerdem macht sie Infoveranstaltungen, vermittelt Freiwillige nach Indien, organisiert Workcamps, hält Kontakt, zum Beispiel zu anderen Rückkehrern, die Fotoausstellungen organisieren, sich für fair gehandelte Produkte aus ihrem Gastland einsetzen oder Vorträge halten. Im August – ein halbes Jahr nach ihrer Rückkehr nach Berlin – war sie wieder für einen Monat zu Besuch in Indien. Das Land – so weit weg, so fremd – ist ihr eine zweite Heimat geworden.

Integration lernen und leben

Foto: Marie Lessing, Deutsch-Indische Zusammenarbeit e.V.
Anpacken kann man in Indien nicht nur in der MonsunzeitBild: Marie Lessing

Marie nimmt in Kauf, dass sich der Abschluss ihres Lehramts-Studiums durch ihr Engagement als Rückkehrerin ein wenig verzögert, schließlich hat sie als Vereinsvorsitzende alle Hände voll zu tun. "Die paar Seminare, die ich an der Uni im Moment besuche, machen mir unglaublich Spaß, aber ich hab jetzt halt auch noch andere Sachen neben dem Studium", erklärt die 25-Jährige fast trotzig. Und diese Mischung mache es so bereichernd. Marie hatte sich für "weltwärts" beworben, weil sie wissen und spüren wollte, wie es sich anfühlt, wenn man irgendwo fremd ist und integriert werden muss. Schließlich will sie Lehrerin werden für Deutsch und Geschichte – an einer Schule mit vielen Kindern mit Migrationshintergrund. Der Freiwilligendienst habe ihr dafür mehr Selbstvertrauen gegeben und ein besseres Verständnis, etwa, "wenn jemand auch einfach mal nicht will". Sie habe ja in Indien auch manchmal einfach nicht gewollt.

Die viel beschworene interkulturelle Kompetenz

Foto: Marie Lessing, Deutsch-Indische Zusammenarbeit e.V.
Als Marie in Berlin ihren Verein gründete, war sogar Besuch aus Indien dabeiBild: Marie Lessing

Was ihr in Indien gefehlt habe, sei zum Beispiel Privatsphäre. Noch heute muss sie lächeln, wenn sie an ihre indischen Freunde und Kollegen denkt: "Die haben mich richtig bemitleidet, dass ich eine 1-Zimmer-Wohnung hab und alleine lebe, weil sie dachten, ich armer Mensch, ich hab wohl niemanden." Und Marie wiederum fand es befremdlich, dass ihre Freundin, die Rechtsanwältin und unverheiratet ist, mit 28 Jahren noch mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in einem Raum schläft, obwohl die Familie doch gar nicht arm ist. "Da zeigen sich einfach die verschiedenen Lebenskonzepte", resümiert sie. Für die Noch-Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, die "weltwärts" ins Leben gerufen hat, lautet das Zauberwort interkulturelle Kompetenz. "Manche Unternehmen versuchen verzweifelt, nachträglich ihren Chefs die interkulturelle Kompetenz beizubringen und schaffen es nie. Die Jugendlichen, die von "weltwärts" zurückkommen, die haben die." Marie findet besonders spannend, dass der Freiwilligendienst ihr aber auch einen neuen Blick auf Deutschland und Berlin gegeben hat: "Ich habe gelernt, dass Berlin echt meine Heimat ist und ich hier auch bleiben will", sagt sie verschmitzt – und plant schon die nächste Reise nach Indien.

Autorin: Ricarda Otte
Redaktion: Gaby Reucher