Mit und ohne Rollstuhl gemeinsam zum Abitur
28. Februar 2012Mathematik ist nicht unbedingt sein Lieblingsfach, aber Cesar Benham ist trotzdem hochkonzentriert. Der 20-Jährige schaut auf ein Aufgabenblatt, denkt kurz nach und macht seinen beiden Mitschülern einen Lösungsvorschlag. Die Oberstufenschüler der Anna-Freud-Schule in Köln sitzen in einer Kleingruppe zusammen und werten geometrische Daten aus.
Keine einfache Aufgabe - aber davon lassen sie sich genauso wenig stressen wie die anderen Schüler des Mathematik-Grundkurses, die sich über den geräumigen Klassenraum verteilt haben. Der Raum ist nicht zufällig so groß. An diesem Gymnasium brauchen die älteren Schüler besonders viel Platz. Denn hier gehen sie nicht nur zur Tafel, sie fahren mit einem Rollstuhl dorthin. An der Anna-Freud-Schule lernen körperbehinderte Schüler und Nichtbehinderte ab der Jahrgangsstufe 11 gemeinsam.
Gemeinsames Lernen
Cesar Behnam ist froh darüber. "Ich habe mir schon immer gewünscht, auf eine integrative Schule zu gehen", sagt er. Der 20-Jährige leidet an Muskelschwund und sitzt im Rollstuhl. Weil er viel Unterstützung braucht, ging er einige Jahre auf eine sogenannte Förderschule, in der nur behinderte Schüler unterrichtet werden. Für den Besuch der Anna-Freud-Schule nimmt Cesar sogar die tägliche Fahrt von seiner Heimatstadt Aachen nach Köln in Kauf.
Das Besondere an diesem Gymnasium: Die Schüler mit körperlichen Behinderungen sind in der Überzahl. Deshalb kann sich das Lehr- und Pflegepersonal optimal auf ihre individuellen Bedürfnisse einstellen. Wenn es um die sogenannte Inklusion an deutschen Schulen geht, ist damit meist gemeint, dass sich Regelschulen wie Haupt- und Realschulen oder Gymnasien für Schüler mit Behinderungen öffnen. An der Anna-Freud-Schule ist das anders: Die Schule für Kinder mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung öffnet sich in der Oberstufe auch für nichtbehinderte Schüler.
Lehrer zu wenig auf Inklusion vorbereitet
Aufgrund dieses deutschlandweit einmaligen Konzepts darf sich das Kölner Gymnasium jetzt Hoffnung auf den deutschen Schulpreis 2012 machen. Es gehört zu den 20 Schulen, aus denen die Jury im Sommer den Sieger ermitteln wird. Das ist nicht unbedingt erstaunlich, denn das Thema Inklusion beschäftigt deutsche Schulen und die Politik derzeit wie kein anderes Bildungsthema. Seit Deutschland vor drei Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat, ist klar: Künftig hat jeder behinderte Schüler ein Recht darauf, in einer Regelschule gemeinsam mit nichtbehinderten Klassenkameraden unterrichtet zu werden. Doch der Weg dahin ist weit. Vor allem an Gymnasien finden sich noch kaum behinderte Schüler. Insgesamt besuchen laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung nur knapp 20 Prozent aller Schüler mit Behinderungen eine Regelschule.
Für Referendar Tobias Dehler liegt der Grund auf der Hand. "Die Lehrerausbildung ist die zentrale Stellschraube, damit die Inklusion auch Erfolg hat", sagt Dehler. "Zurzeit ist die Ausbildung aber unterteilt: Es gibt Förderschullehrer, Gymnasiallehrer, Realschullehrer - aber die haben in der Ausbildung überhaupt nichts miteinander zu tun." Das müsse sich dringend ändern, meint der 29-jährige angehende Lehrer. Dehler hat neben Musik und Mathematik für das Gymnasium auch Sonderschulpädagogik studiert - eine eher seltene Kombination, die ihn aber bestens auf die Inklusion vorbereitet.
Mehr Ruhe im Klassenzimmer
Gemeinsames Lernen mit körperbehinderten Schülern - das ist für Annabelle Piele längst Alltag. Die 18-Jährige ging bis zur zehnten Klasse auf die benachbarte Ernst-Simons-Realschule. Weil sie gute Noten hatte, wechselte sie anschließend aufs Gymnasium. "Die Zusammenarbeit ist gar nicht so unterschiedlich, wie viele denken: Manche sitzen im Rollstuhl oder können vielleicht nicht so gut sprechen", aber das sei eben kein Hindernis.
Auch Simon Rode hat sich für die Anna-Freud-Schule entschieden. Die kleinen Klassen mit weniger als zehn Schülern sieht er als klaren Vorteil. "Ich bin selber eher ein ruhiger Mensch, deshalb kommt mir das zugute", sagt der 17-Jährige. Von der guten Betreuung durch Lehrer und Sonderpädagogen sowie der ruhigen Atmosphäre würden alle profitieren, meint Schulleiter Ludwig Gehlen. Er sei davon überzeugt, dass alle Schüler hier sehr viel lernen und erfahren könnten, gerade im Bereich des sozialen und des emotionalen Lernens.
Autorin: Anne Allmeling
Redaktion: Sabine Damaschke