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Mit Prothesen

Rayna Breuer5. August 2012

Der behinderte Athlet Oscar Pistorius hat bei den Olympischen Spielen Geschichte geschrieben. Seine Teilnahme hat Bewunderung, aber auch Kritik hervorgerufen. Wie viel Technologie darf ein Sprinter nutzen?

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Oscar Pistorus beim 400-Meter-Sprint in London 2012 (Foto: REUTERS/Dylan Martinez)
Bild: Reuters

Am Samstag (04.08.2012) um 11.36 Uhr hat er Geschichte geschrieben: Als erster beidbeinig amputierter Athlet lief Oscar Pistorius seine historische Runde im Olympiastadion in London. Er qualifizierte sich als Zweitbester mit 45,44 Sekunden für das Halbfinale am Sonntag. Mit Sonnenbrille, freundlich lächelnd und auf seinen zwei Karbon-Prothesen stehend winkte Oscar Pistorius vor dem 400-Meter-Sprint noch einmal dem Publikum. "Ich war so nervös am Morgen", erzählt der 25-jährige Südafrikaner nach seiner viel diskutierten Premiere bei den Olympischen Spielen. "Ich wusste nicht, ob ich weinen sollte oder nicht. Es war ein Auf und Ab der Gefühle", sagte er sichtlich ergriffen. Am Sonntag verpasste Pistorius allerdings das Finale über 400 Meter, weil er im zweiten Halbfinal-Lauf in 46,54 Sekunden Letzter wurde.

Bei den Paralympics hatte er alles abgeräumt, was es zu gewinnen gab - in Peking vor vier Jahren nahm er drei Medaillen mit nach Hause. Danach setzte er sich höhere Ziele, er wollte mehr erreichen, sich mit den Besten der Welt messen, bei den Olympischen Spielen dabei sein. Das wurde ihm aber vorerst untersagt: Der Leichtathletik-Weltverband IAAF hatte ihm die Teilnahme verweigert. Das Argument: Pistorius könnte mit den Prothesen einen Vorteil gegenüber den nichtbehinderten Sprintern haben. Der Südafrikaner legte daraufhin 2008 eine Klage ein und gewann. Das Internationale Sportgericht in der Schweiz erteilte ihm das Startrecht. Seitdem beschäftigt der Fall Pistorius die Sportwelt immer wieder aufs Neue.

Die Karbon-Prothesen von Oscar Pistorius. (Foto: REUTERS)
Die Prothesen von "Blade Runner" Pistorius, im Englischen "blades" genanntBild: Reuters

Mehr Fragen als Antworten

Es existieren Gutachten und Gegengutachten: Die Wissenschaft ist sich über die Vor- und Nachteile der Karbon-Prothesen nicht einig. Während einige glauben, dass Pistorius durch seine Stelzen einen technischen Vorteil hat, halten andere diese These für Unfug. "Ich finde es gut, dass Pistorius starten darf", meint Syn Schmitt vom Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften in Stuttgart. "Für mich ist das eher eine politische und ethische Frage und weniger eine biomechanische, denn es ist nach wie vor ungeklärt, wo genau der Vorteil liegt", sagt Schmitt.

Dr. Syn Schmitt Universität Stuttgart Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft Computersimulation menschlicher Bewegung (Foto: Schmitt/Uni Stuttgart)
Der Stuttgarter Sportwissenschaftler Syn SchmittBild: Universität Stuttgart / Schmitt

Vor vier Jahren wurde ein Team an der Sporthochschule Köln beauftragt, Pistorius zu überprüfen. Mit Hochgeschwindigkeits-Kameras wurden komplexe 3D-Bewegungsanalysen erstellt. Das Urteil am Ende: Ja, Pistorius hat durch seine Karbon-Stelzen erhebliche Vorteile: "Sportler müssen bei jedem Schritt durch ihre Muskulatur relativ große Mengen an Energie neu erzeugen. Oscar Pistorius kann dagegen sehr viel Energie in seinen Karbon-Prothesen speichern, die sich dann wieder abrufen lässt", fasst Steffen Willwacher das Ergebnis zusammen. Dem Sportwissenschaftler und Mitglied des Forschungsteams der Sporthochschule Köln zufolge fällt es Pistorius im Vergleich zu nichtbehinderten Sprintern leichter, die notwendige, hohe Geschwindigkeit zu halten.

Die These der Kölner Wissenschaftler beschreibt den technischen Vorsprung für Pistorius während des Laufens mit hoher Geschwindigkeit. Nach genauem Hinsehen scheint Pistorius jedoch auch Nachteile zu haben, wie Willwacher selbst vermutet: "Bei dem Gutachten, das wir erstellt haben, ging es nur um die Phase der hohen Geschwindigkeit. Was man allerdings vermuten könnte, ist, dass Pistorius einen Nachteil in der Startphase hat. Da geht es darum, neue Energie zu erzeugen. Mit den Prothesen kann er keine Energie erzeugen, sondern nur speichern", sagt Willwacher. In keiner Studie sei bislang untersucht worden, wie groß genau die Nachteile von Pistorius während dieser Phase sein könnten. Ein wissenschaftliches Fazit zu ziehen, sei schwer: "Dafür müssen wir die Vor- und Nachteile gegeneinander aufwiegen können. Mit den Daten, die bis jetzt erhoben wurden, kann ein direkter Vergleich nicht erfolgen."

Dipl. Sportwissenschaftler Steffen Willwacher von der Deutschen Sporthochschule Köln (Foto: Steffen Willwacher)
Steffen Willwacher von der Sporthochschule KölnBild: privat

Das Gebot der Fairness

Oscar Pistorius kam 1986 in Johannesburg auf die Welt - ohne Wadenbeine. Nur elf Monate später mussten seine Beine knieabwärts komplett amputiert werden. Seitdem trägt er Prothesen. "Viele behinderte Athleten laufen bei Wettbewerben und den Paralympics mit den gleichen Prothesen wie ich. Bisher ist kein anderer damit unter 50 Sekunden gelaufen", verteidigt sich Pistorius gegen die Vorwürfe des Leichtathletik-Weltverbands. "Ich trainiere härter als 95 Prozent meiner Konkurrenten", betont er stets. "Ich glaube an Fairness."

"Pistorius ist aufgewachsen wie ein normaler Junge, er wurde gleich behandelt, hat ganz normal mit seinen Kameraden Sport gemacht. Jetzt, wo er gleich gut ist und sogar besser als seine Mitstreiter, soll er auf einmal nicht mehr gleich sein?", fragt sich Vanessa Low. Sie hat vor sechs Jahren beide Beine bei einem Unfall verloren. Heute ist sie im Behindertensport Weltrekordhalterin im Weitsprung und bereitet sich auf die Paralympics in London vor, die in wenigen Tagen beginnen. "Wenn ich an Pistorius' Stelle wäre, würde ich es mir auch überlegen, an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Behinderte sind im Alltag voll integriert und warum dann nicht auch im Sport", sagt Low. Da sie aber im Gegensatz zu Pistorius keine Kniegelenke hat, kann sie mit Nichtbehinderten sportlich nicht mithalten. Auf der anderen Seite versteht sie aber auch die Argumente der anderen olympischen Athleten, die "teilweise seit sie vier Jahre alt sind trainieren und geträumt haben, im olympischen Finale zu stehen. Dann wird einem der Platz von jemandem weggenommen, bei dem man noch nicht wissenschaftlich weiß, ob er unter den gleichen Bedingungen startet wie sie", sagt die Sportlerin.

Die behinderte Athletin Vanessa Low beim Weitsprung (Foto: AP)
Lows Ziel für die Paralympics: "Medaille im Weitsprung"Bild: AP

Gefahr vor Technodoping?

Grundsätzlich habe der Behindertensport durch den Fall Pistorius viel an Aufmerksamkeit gewonnen, meint Sportwissenschaftler Steffen Willwacher. Doch man müsse aufpassen, dass es nicht zu einer Technologisierung des Sports kommt. Das Urteil des Internationalen Sportgerichts sei in dieser Hinsicht sehr gut, denn "es erlaubt amputierten Sportlern nur, mit diesen Karbon-Prothesen zu laufen und nicht mit jeder Art von Prothesen." Sonst bestehe die Gefahr, dass gesunde Athleten sich die Gliedmaßen amputieren lassen, weil zukünftige Hightech-Prothesen sie zu höheren Leistungen bringen könnten", sagt Willwacher.

Oscar Pistorius beim 400-Meter-Lauf am 04.08.2012 in London (Foto:Martin Meissner/AP/dapd)
Pistorius auf der ZielgeradenBild: AP

Die Zukunft von Olympia

Der Fall Pistorius wird auch nach den Olympischen Spielen von London die Sportwelt noch lange beschäftigen. "Wenn man Pistorius erlaubt zu starten, dann werden auch andere behinderte Athleten sagen: Wenn er darf, dann möchte ich natürlich auch bei den Olympischen Spielen antreten. Es muss eine Grundsatzregelung her", meint Vanessa Low.

"Bei einigen Sportarten wird man eine Trennung zwischen Paralympics und Olympia bestimmt bald nicht mehr haben wollen", sagt Sportwissenschaftler Syn Schmitt. "Wir wollen Menschen, die wegen ihrer Leistung, ihres Trainings und eines starken Willens an der Spitze der Leistungsspirale stehen können". Und wenn Oscar Pistorius das mit zwei Prothesenbeinen könne, dann solle er auch an Olympia teilnehmen.

Den Einzug in das 400-Meter-Finale verpasste Pistorius am Sonntag - er lief als Letzter ins Ziel. Bei den Spielen in London will er auch noch für die südafrikanische Staffel laufen. Unterdessen träumt Pistorius schon von den nächsten Olympischen Spielen in Brasilien: "Die meisten Sprinter erreichen ihre Leistungsspitze zwischen 27 und 29 Jahren", argumentiert Pistorius. 2016 wird der Südafrikaner 29 Jahre alt sein.