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Mit Einigkeit in die EU

24. Februar 2004

– Ungarns Premier Medgyessy äußert sich zur Lage der Nation

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Budapest, 23.2.2004, BUDAPESTER ZEITUNG, deutsch

Ministerpräsident Péter Medgyessy rief mit einigen Aussagen seiner jährlichen Rede zur "Lage der Nation" (...) Überraschung hervor. Bei der ersten Versammlung der Frühjahrssitzungsperiode des Parlaments forderte er alle politischen Parteien auf, der Bildung einer gemeinsamen Kandidatenliste für die Europawahlen zuzustimmen, um zum EU-Beitritt im Mai einen politischen Konsens herzustellen. Darüber hinaus setzte sich der Ministerpräsident für die Direktwahl des Staatspräsidenten im Jahr 2005 ein und schlug eine Reduzierung der Zahl der Parlamentsabgeordneten von 386 auf 250 vor.

In seinem Überblick der Leistungen der Regierung in den vergangenen zwei Jahren räumte der Ministerpräsident ein, dass einige Entscheidungen zu übereilt getroffen wurden: "Lasst uns ehrlich sein, wir haben die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft über- und die Anzahl der wirtschaftlichen Probleme unterschätzt." Allerdings bestand er darauf, dass der Grund dafür sei, dass "diese Regierung zuviel für die getan hat, die zu wenig haben."

Medgyessy versäumte es aber, die Schwachpunkte in der Wirtschaftspolitik der Regierung im Einzelnen zu benennen, und verteidigte die Zunahme der Sozialausgaben. "Vielleicht haben wir einen Fehler gemacht, weil wir nicht im Voraus gesagt haben, dass die frühere Regierung 900 Mrd. Ft. (ca. 3, 48 Mrd. Euro – MD) Mehrausgaben hinterlassen hat", räumte der Ministerpräsident anschließend ein. Der Wille, Schwächen einzugestehen, sei nur dann ein Fehler, wenn man unsicher sei, wie Probleme gelöst werden könnten. "Perfekte Politik existiert nicht", gestand er ein und betonte, dass Veränderungen durchgeführt werden müssten und die Regierung dazu bereit sei.

Zudem attackierte Medgyessy die Rede, die sein Vorgänger und Vorsitzender der oppositionellen Fidesz (Bund Junger Demokraten – MD)-Partei, Viktor Orbán, eine Woche zuvor gehalten hatte. Orbán hatte in dieser Rede die Ergebnisse der Regierung seit der Machtübernahme im Jahr 2002 heftig kritisiert. Der Ministerpräsident reagierte darauf mit folgenden Worten: "Eine verantwortliche Rede über die Zukunft betont nicht nur die Zweifel und Probleme, sondern bringt auch Lösungen vor. Eine Diagnose zu stellen, ist nicht genug - man muss auch das Rezept schreiben können. Und vorzugsweise eines, das nicht zu teuer ist."

Medgyessy nannte vier Gebiete, in denen er Veränderungen sehen will: "Wir werden die Wirtschaft stärken, weil sie das Fundament einer modernen Demokratie ist. Wir werden die Modernisierungsprogramme beschleunigen. Wir werden Straßen und Autobahnen bauen und dadurch neue Arbeitsplätze schaffen. Wir werden der Erwachsenenbildung und der Fortbildung zu Gunsten von sicheren Arbeitsplätzen mehr Aufmerksamkeit schenken. Wir werden das Gesundheitswesen modernisieren und die Gesundheitsdienste reorganisieren, weil unsere Bevölkerungsstatistik und der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung Sofortmaßnahmen erfordern."

Zum Europaplan der Regierung führte Medgyessy aus, dass 1,350 Billionen Ft. ( ca. 51,8 Mrd. Euro) aus europäischen und ungarischen Quellen sofort nach dem Beitritt für Investitionsprojekte zur Verfügung stehen würden, wobei Kommunalprojekte und NGO-Projekte oberste Priorität genießen würden. Medgyessy versprach 120 Mrd. Ft. (ca. 464,4 Mio. Euro) für Firmen im Industrie- und Dienstleistungssektor, um ihre Wettbewerbsfähigkeit bis Ende 2006 zu verbessern.

Kleine und mittelständische Unternehmen würden 160 Mrd. Ft. (ca. 619 Mio. Euro) an Unterstützung erhalten und 200 Mrd. Ft. (774 Mio. Euro) würden für Landwirtschaftsentwicklungsprojekte ausgegeben, kündigte er an. Medgyessy setzte sich darüber hinaus zum Ziel, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Ungarn, die derzeit eine der niedrigsten in ganz Europa ist, bis zum Jahr 2010 um drei Jahre steigen soll. Er sprach sich für eine Erhöhung der Teilnehmerzahlen in der Erwachsenenbildung aus und kündigte weitere Reformen des Sozialstaats an, "damit die, die Unterstützung brauchen, auch wirklich die sind, die Unterstützung erhalten."

Der Ministerpräsident betonte, dass ein Ende der harten politischen Auseinandersetzung im Land der einzige Weg sei, den Erfolg Ungarns in der EU zu gewährleisten: "Wir wollen Einigkeit und Kooperation aufbauen, weil ich glaube, dass davon die nationale Entwicklung abhängt. Wir müssen uns daran erinnern, dass wir unsere einheimischen Unstimmigkeiten nicht nach Europa exportieren dürfen. Ein europäisches Ungarn kann nicht ohne einen europäischen Politikstil existieren." Am Ende seiner Rede machte der Ministerpräsident drei überraschende Vorschläge: So will Medgyessy beispielsweise die Größe des Parlaments bei den nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2006 von 386 auf 250 Abgeordnete reduzieren. Medgyessy: "Politik soll das Volk weniger kosten und effektiver sein." (...)

Medgyessy überraschte die Opposition und sogar die informierten politischen Beobachter zusätzlich mit der Forderung, eine einheitliche Kandidatenliste für die Europawahlen im Juni 2004 aufzustellen, wobei die Kandidaten gleichmäßig zwischen der Regierung und der Opposition aufgeteilt werden sollen: "Die politische Transformation ist zu Ende und eine neue Zeit beginnt". Gleichzeitig forderte er, den EU-Beitritt durch eine Vereinigung der politischen Kräfte zu feiern: "Wie bei den olympischen Spielen sollten wir zu einem Nationalteam werden, das das Land repräsentieren kann." Der Ministerpräsident wandte sich namentlich an die MDF (Ungarisches Demokratisches Forum – MD)-Vorsitzende Ilbolya Dávid und Viktor Orbán, bezeichnete sie als "Führungspersönlichkeiten der rechten Seite" und forderte sie auf, dieser Idee ihre Unterstützung zu geben, damit Ungarn seine EU-Mitgliedschaft unbeeinträchtigt beginnen könne.

Medgyessys dritter unerwarteter Vorschlag bestand darin, das Wahlvolk unmittelbar den nächsten Präsidenten der Republik im Jahr 2005 wählen zu lassen. Die Idee der Direktwahl ist seit den späten 80er Jahren mehrmals von der MSZP (Sozialistische Partei – MD) vorgeschlagen und immer wieder von SZDSZ (Bund Freier Demokraten – MD), Fidesz und MDF abgelehnt worden. (fp)