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Missstimmung in Polen nach dem EU-Beitritt

14. Oktober 2004
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Bonn, 13.10.2004, DW-RADIO / Europa, Justyna Bronska

Nach dem politischen Umbruch vor 15 Jahren war es das Ziel der polnischen Regierung, der Europäischen Union beizutreten. Seit dem 1. Mai ist Polen nun EU-Mitglied. Noch vor einem Jahr hat die große Mehrheit der polnischen Bevölkerung den EU-Beitritt befürwortet. Doch inzwischen sind viele Menschen nicht mehr so euphorisch. Wie ist die Stimmungslage in Polen heute, kurz nachdem das osteuropäische Land der EU beigetreten ist? Dieser Frage ist Justyna Bronska nachgegangen.

Seitdem die Polen erkannt haben, dass der EU-Beitritt auch gewisse Kosten mit sich bringt, wächst die Zahl der Euroskeptiker im Lande. Nach einer Umfrage von Anfang August sehen 48% der Polen die EU-Mitgliedschaft positiv, 18% der Befragten beurteilen den EU-Beitritt als schlecht für Polen. Noch vor mehr als einem Jahr hat sich in einer Volksbefragung eine klare Mehrheit der polnischen Wähler für die Zukunft Polens in der EU entschieden. Beinahe die Hälfte von ihnen ist inzwischen davon abgerückt. Die Bürger zeigen sich zunehmend enttäuscht, viele begreifen sich als klare Verlierer des EU-Beitritts.

Aber wo liegen die Ursachen der wachsenden Misstimung in Polen? Die Beamtin Beata Merenda aus Wroclaw (Breslau) sieht in der mangelnden Information einen Hauptgrund:

"In jeder Bevölkerungsschicht nimmt das Gefühl zu, nicht ausreichend über das Projekt des EU-Beitritts informiert zu sein. Es gab zwar genug Broschüren und andere Informationsmaterialien über die EU. Aber in denen war praktisch nur zu lesen, welche Chancen Polen der EU-Beitritt bietet. Die möglichen negativen Konsequenzen des Beitritts wurden nur am Rande erwähnt. Unser Lebensstandard würde sich direkt nach dem Beitritt erhöhen, war aus Warschau zu hören. Das ist doch eine Illusion, aber die Mehrheit der Bevölkerung hat daran geglaubt. Man hat vergessen, uns zu sagen, dass der EU-Beitritt auch gewisse Kosten mit sich bringt. Erst jetzt ist uns bewusst geworden, dass man, um etwas zu haben, auch was geben muss. Die Polen erleben jetzt einen Realitätsschock. Und das ist der Grund für die wachsende EU-Skepsis in Polen."

63 Prozent der Polen beklagen, dass die Preise für Lebensmittel massiv gestiegen sind – ein weiterer Grund für die zunehmende EU-Skepsis der Polen. Der Arzt Marcin Merenda aus Breslau ist enttäuscht:

"Für mich hat sich eigentlich nicht viel geändert. Nur die Preise besonders für Lebensmittel oder Wohnungsmieten sind stark gestiegen. Aber die Löhne sind gleich geblieben. Und wir erwarten weitere Preissteigerungen. Ich würde sogar sagen, dass sich bei einigen die finanzielle Lage verschlechtert hat. Sonst sind aber keine Veränderungen zu spüren".

Solche und ähnliche Aussagen überwiegen auf den polnischen Straßen.

Zbigniew Bronski, Geschichts- und Politiklehrer, sieht noch einen weiteren Grund. Seiner Meinung nach ist die postkommunistische Regierung an der schlechten Stimmung schuld: "Viele Reformen oder Regelungen, mit denen die polnische Bevölkerung nicht einverstanden war, wurden als notwendig bezeichnet, das verlange die EU von uns, hieß es. Für den Beitritt müssen wir unser Recht dem EU-Recht anpassen. Solche Erklärungen kamen ständig aus Warschau. Aber das stimmte nicht. Klar, dass dann der Unmut in der Öffentlichkeit wächst. Die postkommunistische Regierung hat versucht, sich mit ihrer unpopulären Politik hinter einer Schutzmauer der EU zu verstecken. Ständig hieß es, wir müssten das EU-Recht übernehmen. Dabei wurde vieles eingeführt, was das EU-Recht gar nicht vorsieht. Das Schlimme ist, dass die Regierung weiterhin diese Politik praktiziert."

Die größten Gewinner des EU-Beitritts seien heute die Landwirte, meint der Lehrer weiter. Aber sie seien auch die stärksten EU-Gegner: "Die Bauern bekommen Direktzahlungen aus dem EU-Haushalt. Dass die Bauern am EU-Beitritt verdient haben, lässt sich aus der neuesten Meinungsumfragen ablesen. Die europaskeptische Bauernpartei Samoobrona mit dem Anführer Andrzej Lepper hat deutlich an Zustimmung verloren. Noch vor den Wahlen war die radikale Partei die zweitstärkste im polnischen Parteispektrum, heute nimmt Samoobrona den vierten Platz ein. Der Grund dafür ist einfach: Andrzej Lepper kann jetzt keine Argumente mehr gegen die EU vorbringen." (sta)