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Bergmann hinterlässt verwaisten Stuhl

1. November 2011

Die Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch, Christine Bergmann, hat ihre Tätigkeit beendet. Ihre Bilanz der Bewältigung des Missbrauchsskandals fällt gemischt aus.

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Beschädigte Kinderpuppen (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Es ist ihr letzter Arbeitstag, aber Christine Bergmann hat die Koffer am Montag (31.10.2011) noch nicht gepackt: "Das ist ein Thema, das lässt einen nicht los." Als Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs war die 72-Jährige im März 2010 von der Bundesregierung eingesetzt worden. Bergmanns Dienststelle sollte der zentrale Anlaufpunkt für Betroffene werden. Eine Telefonhotline wurde eingerichtet, 19.000 Anrufe erreichten die Anlaufstelle, 3000 Briefe und E-Mails kamen an.

Christine Bergmann, die ehemalige Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch (Foto: dpa)
Christine Bergmann legt die Arbeit nach 19 Monaten niederBild: picture alliance/dpa

Am Ende von Bergmanns Arbeit steht ein 300 Seiten langer Bericht mit Empfehlungen an die Politik, die auch in den Abschlussbericht des Runden Tisches "Sexueller Kindesmissbrauch" eingehen werden. Die konkreten Umsetzungen müssen nun folgen - doch Christine Bergmann geht ohne eine Nachfolgerin. Betroffene reagieren darauf irritiert und verärgert. Sie fürchten, dass die Umsetzung von Bergmanns Empfehlungen gefährdet ist, wenn der Posten zu lange unbesetzt bleibt.

Die Dimension der Skandale

Das Gebäude des Canisius-Kolleg Jesuitengymnasiums in Berlin (Foto: dpa)
Das Canisius-Kolleg in BerlinBild: picture-alliance/dpa

Die Stelle der Unabhängigen Beauftragten war eingerichtet worden, nachdem der jüngste Skandal um sexuellen Missbrauch in Deutschland eine unerwartete Größenordnung erreicht hatte.

Es begann vor knapp zwei Jahren in Berlin: Ehemalige Schüler des katholischen Elitegymnasiums Canisius-Kolleg berieten sich im Januar 2010 mit dem damaligen Rektor des Jesuitengymnasiums, Pater Klaus Mertes. Sie erzählten ihm, dass sie zum Teil über Jahre hinweg von Lehrern sexuell missbraucht worden seien. Mertes reagierte – mit einem Brief an rund 600 ehemalige Schüler: Innerhalb kürzester Zeit meldeten sich mehr als 100 ehemalige Schüler, die angaben, auch missbraucht worden zu sein. Die Schule ging daraufhin an die Öffentlichkeit – und viele weitere Opfer meldeten sich zu Wort. Missbrauchsfälle an anderen Institutionen wurden bekannt. Eine Lawine brach los.

"Nur eine kleine Tür aufgestoßen"

"Es wurde bisher viel geredet", sagt Michael Ermisch und blickt mit gemischten Gefühlen auf die vergangenen zwei Jahre zurück. Der 47-jährige engagiert sich in der Bundesinitiative der Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Er sieht nur kleine Fortschritte in der bisherigen Aufarbeitung. Zum Beispiel das neue Kinderschutzgesetz: Es schreibt eine engere Zusammenarbeit von Kinderärzten, Hebammen, Jugendämtern und Beratungsstellen vor, damit es gar nicht erst zu Misshandlungen und Vernachlässigungen kommen kann. Das Gesetz soll im Januar in Kraft treten, muss aber noch vom Bundesrat bestätigt werden.

Ermisch kritisiert besonders eine fehlende Transparenz und spielt dabei auf die Kommunikation zwischen Politikern und Betroffenen am Runden Tisch an. Der war im Frühjahr 2010 von der Bundesregierung berufen worden: Vertreter aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und Opferverbänden diskutieren hier über Maßnahmen zur Prävention und Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Geleitet wird der Runde Tisch von den Bundesministerinnen Annette Schavan, Kristina Schröder und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Bei Entscheidungen darüber, in welche konkreten Präventionsmaßnahmen Geld investiert wird, fühlt sich Ermisch als Betroffener nicht einbezogen.

Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU, v.l.) (Foto: dpa)
Die Vorsitzenden am Runden TischBild: picture alliance/dpa

Noch in diesem Jahr wird der Runde Tisch seinen Abschlussbericht vorlegen, in den auch die Empfehlungen von Christine Bergmann einfließen werden: Ein Hilfesystem soll aufgebaut werden, das schnelle Therapien und Lebensbegleitung für Missbrauchsopfer anbietet, die solche Leistungen nicht über die Krankenkasse abrechnen können. Wenn der Missbrauch in Institutionen stattgefunden hat, sollen die Institutionen auch für die Therapiekosten aufkommen. Hat sich der Missbrauch jedoch in der Familie ereignet, soll der Staat die Kosten tragen. Außerdem sehen die Empfehlungen eine Verlängerung der Verjährungsfristen vor. Hauptänderungspunkt ist hierbei, dass die Verjährungsfristen nicht mit Beendigung der Tat starten, sondern erst beginnen, wenn das Opfer das 21. Lebensjahr vollendet hat, oder dann anfangen, wenn der Betroffene nicht mehr mit dem Täter unter einem Dach wohnt.

Viele dieser Empfehlungen unterstützt auch Michael Ermisch, aber er ist sich auch bewusst, dass jede Empfehlung gesetzlich festgeschrieben und finanziert werden muss: "Wir fangen gerade erst an. Wir haben nur eine kleine Tür aufgestoßen, wir müssen aber eine große Pforte aufmachen."

"Man kann jetzt darüber sprechen"

Auch die katholische Kirche hat eine Hotline für Missbrauchsopfer eingerichtet, bietet Fortbildungen für Mitarbeiter an, in denen sie lernen, über das Thema sexueller Missbrauch zu sprechen. Seit Februar 2010 ist der Trierer Bischof Stephan Ackermann Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz. Pater Klaus Mertes, der den Missbrauchsskandal am Canisius-Kolleg mit aufdeckte, sieht Fortschritte in Bezug auf die Aufarbeitung. Für die Jesuitenschulen kann er konkrete Maßnahmen nennen, die seit Bekanntwerden der Skandale umgesetzt wurden. Ein wichtiger Bestandteil seien unabhängige Beschwerdestellen, die jede Jesuitenschule nun vor Ort habe: "Ein Mitarbeiter dieser unabhängigen Stelle kann Diskretion zusagen und gerät nicht sofort in einen Loyalitätskonflikt, weil er nicht an der Schule direkt angestellt ist", sagt Pater Mertes. Außerdem werde das Thema sexueller Missbrauch gerade in die Stundenpläne eingearbeitet.

Der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, Bischof Stephan Ackermann. Foto: Harald Tittel dpa/lrs
Bischof Stephan AckermannBild: picture-alliance/dpa

Matthias Katsch reichen diese Maßnahmen bei Weitem nicht aus. Katsch war einer der ersten Betroffenen, die öffentlich erklärten, über Jahre hinweg von zwei Jesuitenpatern am Canisius-Kolleg in Berlin missbraucht worden zu sein. Katsch gründete den Opferverband Eckiger Tisch, eine Anspielung auf den Runden Tisch der Bundesregierung. Besonders bedenklich findet er, dass die Kirche die zahlreichen Missbrauchsfälle nicht als ein strukturelles Problem anerkenne: "Die herausgehobene Rolle des Priesters in Kombination mit einem rückständigen Verständnis von Sexualität stellt ein großes Restrisiko dar." Katsch findet es falsch, dass die katholische Kirche weiterhin argumentiere, in ihren Reihen gebe es nur Einzeltäter. Für Katsch ist die Vielzahl von Missbrauchsfällen durch katholische Priester ein Beweis dafür, dass ein strukturelles Problem vorliege. Er fordert, eine "Auseinandersetzung mit den Strukturen, die den Missbrauch überhaupt möglich gemacht haben".

Logo der Bundesinitiative der Betroffenen von sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Kindesalter; Copyright: Michael Ermisch
"Bergmann hat Großes geleistet."Bild: www.die-bundesinitiative.de

Kein Nachfolger in Sicht

In Gesprächen mit Opfern und Vertretern der Kirche wird eines deutlich: Alle sind der Meinung, dass Christine Bergmann ihre Aufgabe hervorragend erfüllt habe. Sie habe "Großes geleistet", sagt Maren Ruden stellvertretend für die Bundesinitiative der Betroffenen.

Die Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten bleibt weiter bestehen, "das Kernteam" werde die Arbeit fortsetzen, sagt Christine Bergmann. Nur sie stehe eben nicht mehr zur Verfügung und räumt ein: "Wichtig ist natürlich auch, dass möglichst bald der Kopf für die Stelle gefunden wird, damit auch für alle deutlich sichtbar ist, wie es weiter geht." Es wäre ein Zeichen dafür, dass es weitergeht, das die Betroffenen vor allem von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) erwarten.

Autorin: Heike Mohr
Redaktion: Arne Lichtenberg/Reinhard Kleber