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Gezüchtete Mini-Gehirne

Kerry Skyring, Wien (rb)29. September 2013

Reiskorngroß, weiß und glibbrig: Wissenschaftlern ist es gelungen, menschliches Hirngewebe zu züchten. Die Mini-Gehirne aus dem Reagenzglas könnten beim Erforschen von Schizophrenie oder Autismus helfen.

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Querschnitt eines vollständigen cerebralen Organoids mit verschiedenen Gehirnregionen (Foto: IMBA/ Madeline A. Lancaster)
Bild: IMBA/M. A. Lancaster

"Mini-Gehirne" klingt viel einfacher als "Organoide". Aber: Wissenschaftlich korrekt sind es Organoide, die Jürgen Knoblich und seine Kollegen am Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) erschaffen haben. Dem Team ist es erstmals gelungen, aus Stammzellen ein winziges Gehirn zu entwickeln. Das runde, weiße - etwa vier Millimeter kleine - Gehirn entspricht dem Entwicklungstand eines Embryohirns in der neunten oder zehnten Schwangerschaftswoche. Die Forscher erhoffen sich von dieser Entwicklung Erkenntnisse zur Entstehung von Erbkrankheiten.

"Sobald die Stammzellen ein gewisses Entwicklungsstadium erreicht haben, kommen sie in diesen Behälter", erklärt Knoblich im Gespräch mit der Deutschen Welle und zeigt dabei auf sich drehende Zentrifugen. "Damit versorgen wir sie mit ausreichend Sauerstoff und Nährstoffen", erklärt Knoblich weiter. Die Forscher verwendeten hierfür Stammzellen von Erwachsenen. In dem sich drehenden Bioreaktor züchteten sie Neuroektoderm, das Zellgewebe im menschlichen Embryo, aus dem sich das Gehirn und das Nervensystem entwickeln.

Einfache Methode, enormer Erfolg

Dieser Bioreaktor, erklärt Knoblich, sei einer der "wichtigsten Tricks", den seine Kollegin Madeline Lancaster eingesetzt hat, damit der Versuch gelingt. Er betont, dass keine neumodische Wissenschaft angewendet worden sei. "Es ist eigentlich ganz einfach, im Vergleich zu dem enormen Erfolg", sagt Knoblich.

Viele Neurologen stimmen dem zu. Die Frage ist aber, was die Wissenschaftler mit dem Experiment erreichen wollen. "Die Idee ist, die früheste Stufe der Entwicklung des menschlichen Gehirns nachzubilden", erklärt Knoblich. "Denn das ist eines unserer größten Probleme in der biomedizinischen Forschung: Das Wissen aus Tierversuchen auf menschliche Krankheiten übertragen. Wir dürfen keine Experimente an Menschen durchführen - also brauchen wir solche Gehirnmodelle."

Jürgen Knoblich (Foto: IMBA/Hans Krist)
Knoblich war überrascht, wie schnell die Mini-Gehirne gewachsen sindBild: IMBA/Hans Krist

"Das Gehirn wächst"

Knoblich erzählt, er sei regelrecht aufgeregt gewesen, als das Gewebe gewachsen sei. "Ich habe es jeden Tag oder alle zwei Tage beobachtet und sah, wie es wuchs und wuchs", so der Wissenschaftler. "Es gab einen Moment, wo ich dachte: Werden die jemals aufhören zu wachsen, weil sie sich ständig weiter entwickelten." Drei bis vier Millimeter - die maximale Größe, die im Durchschnitt erreicht wurde - sei für ein Laborexperiment sehr viel. "Sie sind viel mehr gewachsen, als ich es erwartet hätte", erklärt Knoblich und ist selbst ein wenig erstaunt.

Aber wie intelligent ist solch ein Mini-Gehirn? "Es scheint weit unter dem Niveau dessen zu liegen, was wir als Gehirn bezeichnen. Aber es scheint in der Lage zu sein, Signale und Verbindungen zwischen der einen Seite und der anderen zu übertragen", erklärt Dean Burnett, Dozent für Neurologie an der Universität Cardiff. Der Wissenschaftler - selbst nicht am Versuch beteiligt - erklärt, dass aber genau diese Funktion dazu führe, dass das Gehirn später komplexe und schwierige Aufgaben lösen könne.

Vergrößerte Abbildung eines cerebralen Organoids (Foto: IMBA/ Madeline A. Lancaster)
So sieht das Mini-Hirn vergrößert aus - tatsächlich ist es gerade mal knapp vier Millimeter großBild: IMBA/M. A. Lancaster

Im Labor erklärt Jürgen Knoblich, was unter dem Mikroskop zu beobachten ist: "Im Prinzip können wir verschiedene Teile des menschlichen Gehirns sehen. Hier sehen wir die Hirnrinde und den Hippocampus - eine Gehirnregion, die für die Verarbeitung von bedrohlichen oder traumatischen Reizen zuständig ist." Die Teile des Gehirns seien richtig und präzise angeordnet. "Aber das gesamte Organoid ähnelt nicht einem Gehirn."

"Ich vergleich das oft mit einem Auto", erklärt Knoblich weiter. "Der Motor wäre hierbei auf dem Dach, das Auspuffrohr zeigt nach vorne, das Getriebe ist im Kofferraum und die Räder sind oben. Das kann nützlich sein, um zu studieren, wie der Motor und andere Teile funktionieren, weil sie richtig miteinander verbunden sind. Aber fahren wird dieses Auto nie können", so Knoblich.

Das IMBA-Team ist sich bewusst, dass die Organoide nie so komplex wie ein Gehirn werden. Die mangelnde Durchblutung, wichtig für Sauerstoff- und Nährstoffversorgung, behindere das weitere Wachstum.

Bessere Forschung möglich

Für Madeline Lancaster liegt der wirkliche Nutzen ihrer Arbeit darin, dass Wissenschaftler künftig solche Mini-Gehirne auf Nachfrage erhalten können, um die Ursachen von Störungen im Gehirn zu erforschen.

Madeline Lancaster (Foto: IMBA)
Madeline Lancaster hofft, dass die Mini-Gehirne einmal bei der Erforschung von Schizophrenie helfenBild: IMBA

"Schizophrenie oder Autismus mithilfe von Mäusen zu erforschen, ist ziemlich schwierig. Im menschlichen Hirn gibt es Stammzellen, die im Maushirn nicht vorkommen. Aber wenn man jetzt tatsächlich ein Modell hätte, das die Aspekte des menschlichen Gehirns nachahmt, könnten wir nach Ursachen für solche Störungen schauen", so die Wissenschaftlerin.