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Mikrozensus und Migrationshintergrund

Carsten Grün26. August 2016

Die deutschen Behörden wissen offenbar zu wenig über im Land lebende Migranten. Nun will die Bundesregierung über die jährliche Befragung "Mikrozensus" weitere Informationen sammeln.

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Deutschland Symbolbild Multikulti MyFest in Berlin-Kreuzberg
Bild: picture-alliance/Eventpress

Seit 1957 werden jährlich vom Statistischen Bundesamt in Deutschland Daten über die Bürger erhoben. Rund 830.000 Personen, etwa ein Prozent der Bevölkerung, werden dann angeschrieben und müssen auf rund 70 Seiten Auskunft geben über Fragen wie wirtschaftliche und soziale Verhältnisse, Bildung, Beruf, Familie und Arbeitssituation. Die Befragten werden nach einem festgelegten statistischen Zufallsverfahren ausgewählt.

Seit 2005 wurde der Mikrozensus um Fragen zum Migrationshintergrund erweitert. Hier ging es in den bisherigen Fragebögen unter anderem um frühere Auslandswohnsitze oder die Staatsbürgerschaft der Kinder. Nun wurde dieser Bereich überarbeitet. In der neuen Mikrozensus-Befragung, die im kommenden Jahr durchgeführt werden soll, wird es dann zusätzlich um Fragen gehen wie die, welche Sprache zuhause gesprochen wird, in welchem Staat man geboren wurde und welchen Grund es für den Zuzug nach Deutschland gab. Aber liefern diese Fragen auch verwertbare Informationen? Denn eigentlich hängt alles immer mit der Begrifflichkeit "Migrationshintergrund" zusammen.

20 Prozent haben einen Migrationshintergrund

Nach den letzten Mikrozensus-Erhebungen hat rund jeder fünfte Einwohner der Bundesrepublik einen Migrationshintergrund. Es gibt inzwischen sogar mehr deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund als eigentliche Ausländer – statistisch gesehen. Bedeutsam sind solche Kategorien für die Ausrichtung von schul- und arbeitsmarktpolitischen Beschlüssen. Hier geht es dann um Förderungen. Ist jemand Ausländer oder hat einen Migrationshintergrund, dann stehen oft andere Möglichkeiten zu Verfügung.

Die Frage nach der Identität fehlt

Aber der Begriff scheint verwässert. Das sieht auch Irene Leser, Migrationsforscherin an der Universität Hildesheim, so: "Ich bin fast dafür, den Begriff Migrationshintergrund abzuschaffen. Es ist eine Sache der Definition, wann der Migrationshintergrund beginnt. Er bringt nicht weiter und kann von Forschern sehr unterschiedlich definiert werden."

Anja Weiß, Professorin für Soziologie und Migrationsforscherin der Universität Duisburg-Essen, hat ebenfalls ihre Probleme mit diesen neuen speziellen Fragen und dem Begriff "Migrationshintergrund": "Die Erweiterung scheint nicht unbedingt ein Fortschritt zu sein. Es fehlt, wie im angelsächsischen Raum, der Punkt der selbstdefinierten Identität, wo die Leute selber bestimmen können, wozu sie sich gehörig fühlen. Man will mit diesen Fragen vermeiden, dass Rassismus sich verfestigt, jedoch wenn man Migranten bis in die zweite und dritte Generation ableitet, dann macht man Leute zu Migranten, die keine sind, und stigmatisiert sie", sagt Weiß.

Schüler vor der Tafel Foto: © Peter Atkins
Spracherwerb und Integration gehören zusammen, aber wo bleibt die Identität fragen WissenschaftlerBild: Fotolia/Peter Atkins

Schwierige Begrifflichkeit

Dies kam auch bei einer Konferenz unter dem Titel " Vermessung der Einwanderungsgesellschaft" am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung deutlich zum Ausdruck. Ein interdisziplinäres Expertenteam war sich einig, dass der Begriff des Migrationshintergrundes nur wenig verlässliche Daten liefert. So könne es sein, dass, wenn jemand einen ausländischen Namen hat, aber gar keinen Migrationshintergrund, dass er unter Umständen diskriminiert werde, lautet die Meinung der Fachleute.

In den USA geht man mit der Klassifizierung anders um. Allerdings ist die USA als Einwanderungsland eh sehr diversifiziert. Dort lauten die Klassifikationen dann zum Beispiel weiß, afroamerikanisch oder asiatisch. In Deutschland wäre das allerdings wegen des Nationalsozialismus undenkbar. Die Nazis klassifizierten jeden.

Unterschiedliche Wahrnehmungen

Joshua Kwesi Aikins, Politologe an der Universität Kassel, ist der Ansicht, dass einige Menschen mit Migrationshintergrund deutlich weniger Diskriminierung aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft erleben als andere", sagte er in einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit". Aikins ist auch Koordinator der deutschen Ausgabe des UN-Rassismusberichts. Wer etwa in vierter oder fünfter Generation Deutschghanaer oder Deutschtürke sei, falle aus der Statistik raus. Trotzdem erlebe dieser Mensch Diskriminierung. Außerdem hätten nach dieser Einstufung auch weiße Niederländer, die nach Deutschland einwanderten, und deren Kinder einen Migrationshintergrund, obwohl sie viele Probleme nicht erlebten", so Aikins gegenüber dem Wochenblatt.

Deutschland Mikrozensus Foto: picture-alliance/dpa/P. Zinken
Alljährlich werden die Daten von mehr als 800.000 Bürgern im Mikrozensus erhobenBild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Stigmatisierungen

Auch die Frage nach der im eigenen Heim gesprochenen Sprache sieht die Duisburger Professorin Anja Weiß kritisch: "In der Realität werden zuhause mehrere Sprachen gesprochen. Es wird hier suggeriert, dass man dann nur in der zuhause gesprochen Sprache Kompetenzen hat. Aber was ist, wenn ein deutscher Wissenschaftler oder Manager im Ausland arbeitet, er will ja dann auch, dass seine Kinder zuhause Deutsch sprechen lernen. Genauso ist es bei ausländischen Familien hier. Eigentlich erfolgt hiermit eine Stigmatisierung von Mehrsprachigkeit."